Von der Senatorenvilla zur Sackstopferei: Das Gelände südlich des Waageplatzes im 19./20. Jahrhundert

Das südliche Ende des Waageplatzes wirkt heute unspektakulär: Parkplätze und das DKV-Bürohochhaus haben alle historischen Spuren verwischt. Das Hochhaus galt in den 1980er Jahren sogar als Negativbeispiel einer nicht an die Umgebung angepassten Bauweise (etwa im Planungsleitbild 1988, S. 249). Die Stadtverwaltung war damals stolz auf die überarbeitete Gestaltungssatzung, die vorschrieb, wie ein Gebäude in den Bestand einzufügen war, ohne das Straßenbild zu stören, z.B. wie viele Stockwerke es haben durfte, wie es gegliedert sein sollte und wie das Dach gestaltet sein sollte. Heute mag man z.T. anders darüber denken, gilt doch die Architektur der Moderne mittlerweile auch grundsätzlich denkmalpflegerisch als erhaltenswert, und zumindest das DKV-Hochhaus ist sehr viel feiner gegliedert als z.B. das ehemalige Hertie-Kaufhaus (heute Carré).

Entwurf für die Villa des Senators Hesse, 1883 (Stadtarchiv Göttingen)

Die Fotos und Pläne im Stadtarchiv geben Einblick, welches Gebäude hier vor dem Bau des Hochhauses gestanden hat: Eine prächtige Villa im historistischen Stil, mit einem weitläufigen Garten. Über dem Leinekanal erhob sich ein Gartenpavillon. Die Villa wurde 1883 von dem Müllermeister Hermann Hesse errichtet, der später Senator beim Rat der Stadt wurde. Er kam aus einer Müller-Dynastie, die auch in der Großen Mühle (Stockleffmühle) wirkte. Zwölf Jahre später entstand ein Gartenpavillon.

Entwurf zu einem Gartenpavillon auf dem Grundstück Obere Masch Straße 8, 1895 (Stadtarchiv Göttingen)

Die Villa wurde im ausgedehnten Gartenbereich des Hauses Obere Masch Straße 8 gebaut, das ursprünglich der Familie Hesse gehörte. Eine Brücke führte direkt über den Leinekanal zur Mühle. Zwischen Waageplatz und dem Grundstück Obere Masch Straße 8 floss damals noch der Maschbach. Er wurde später verrohrt und schließlich eine Straße südlich am Gefängnis vorbei zum Waageplatz angelegt. Hierfür wurde 1932 die Parzellengrenze zurückverlegt. Damals befand sich auf dem Villengrundstück die Autowerkstatt H. Fütterer, in der auch aus Stahlrohren Möbel hergestellt wurden. In der Villa waren mehrere Mietswohnungen eingerichtet worden. Sogar der Keller war bewohnt, was jedoch baupolizeilich beanstandet wurde. 1951 sollte das Grundstück von einer Erbengemeinschaft verkauft werden. Die Fläche wurde auf 2379 m2 veranschlagt. In den einstigen Ställen war eine Sackstopferei untergebracht, deren Verkaufsgeschäft sich in der Weender Straße beim Nabel befand. Es war damals geplant, 40 Garagen zu errichten. 1958 wurde die Villa abgerissen, weil sie baufällig war: Die Balken waren wurmstichig und vom Schwamm befallen, die Decke zum 1. Obergeschoss nicht mehr tragfähig. An ihrem Platz wurde nun das DKV-Hochhaus errichtet, was damit zu einem der ältesten Hochhäuser der Stadt wurde (gemeinsam mit dem Gebäude der Sparkasse am Groner Tor und dem Opel-Hochhaus).

Briefkopf der Sackstopferei von 1951 (Stadtarchiv Göttingen)

Die Sackstopferei, die zeitweise in den Nebengebäuden der Villa betrieben wurde, erinnert an ein altes Gewerbe, das in unserer Wegwerfgesellschaft längst ausgestorben ist. Säcke waren in der Vormoderne so allgegenwärtig wie heute die Paletten. Alle Schüttgüter wurden irgendwann auf ihrem Weg zum Verbraucher oder zur Weiterverarbeitung in einem Sack transportiert. Es gab daher Säcke in unterschiedlichsten Größen und Textilqualitäten: in grober Jute und feinem Leinen, je nach Art des Schüttgutes. Heute widmet sich z.B. das Sackmuseum in Nieheim diesem einstigen Alltagsgegenstand. Zum Flicken wurden Nähmaschinen verwendet, die für unterschiedlich starke Gewebe eingestellt werden konnten. Diese Arbeit wurde meist von Frauen ausgeübt. In Hildesheim errichtete die Gemeinnützige Baugesellschaft AG z.B. 1908 eine Sackstopferei neben einem Kindergarten, damit die Mütter, während ihre Kinder dort betreut wurden, ein wenig Geld verdienen konnten (Stadtarchiv Hildesheim, Arcinsys.niedersachsen.de). Am Waageplatz dürften vor allem die ärmeren Frauen aus dem Maschviertel in der Sackstopferei gearbeitet haben. Die ärmlichen Arbeitsbedingungen gehen aus einem Brief hervor, der verfasst wurde, nachdem die Feuerwehr einen fehlenden Schornstein bemängelt hatte. Der Betreiber sah sich außerstande, den geforderten Schornstein zu errichten. Zusätzlich zur Reparatur der Säcke wurde allerdings auch die Erneuerung von textilen Innenauskleidungen von Autos und Waggons angeboten. Hiermit deutet sich ein neuer Erwerbszweig an, während die Säcke als Transportmittel schon bald verschwinden sollten.

Thomas Küntzel

Quellen:

Stadtarchiv Göttingen, Baupolizei XXB Fach 112 Nr. 485

Ilka Göbel, Die Mühle in der Stadt. Müllerhandwerk in Göttingen, Hameln und Hildesheimvom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 31 (Bielefeld 1993).

Allgemeines Adressbuch für Göttingen (Göttingen 1857ff.), online: https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN722273703

Klaus Boie, Die Entwicklung der Göttinger Innenstadt. Planungsleitbild 1988 (Göttingen 1989).

Sackmuseum Nieheim: https://www.sackmuseum.de