Historische Spuren in der Mauer am Leinekanal

Wenn man von der Brücke bei der Stockleffmühle aus auf die Mauer am Leinekanal blickt, sieht man historisches Mauerwerk aus Kalkstein und einzelnen Sandsteinquadern, das einiges von der Geschichte des Waageplatzes verraten kann. Gleich nördlich der Fußgängerbrücke erkennt man einige Quader, die eine senkrechte Kante bilden. Hier endete einst das Brauhaus, das um 1735 auf dem Platz errichtet worden war. Es enthielt zwei Räume mit Braukesseln (Bütten) sowie an den Schmalseiten je einen Keller zum Kühlen des Bieres. Da sich herausstellte, dass die beiden Räume jeweils für sich zu beengt waren, wurde bald die Trennwand entfernt und eine mittige Braupfanne mit Abzugshaube eingebaut.

Aufriss der Mauer am Leinekanal (nicht verzerrungsfrei) mit dem Umriss des ehemaligen Brauhauses (grau, gespiegelt Ansicht vom Waageplatz her). A: Fußgängerbrücke, B: Rampe, C: Rohr (ehemalige Kuhleine), D: Mauerecke, E: vermauerte Öffnungen.

Modell des Waageplatzes mit Rekonstruktion des Brauhauses mit dem Grundriss des Nebengebäudes südlich davon und dem Standort der Hauptwache.

Mit dem Aufkommen von Tee und Kaffee als neuen Modegetränken sank die Nachfrage nach Bier, und das Haus wurde 1780 in ein Badehaus umgewandelt. Durch die Eröffnung des Rohns’schen Badehauses am Albanitor verlor das Gebäude wiederum seine Funktion und nahm 1820 eine Kaserne auf. Zwar entstand bald darauf eine neue Soldatenunterkunft am Geismar Tor, aber das Gebäude behielt seine Nutzung. Zusätzlich brachte man die städtische Waage unter, die sich zuvor im ehemaligen Franziskanerinnenkloster am Wilhelmsplatz befand. Die Angaben darüber, wo die Waage genau eingerichtet wurde, sind aber nicht ganz klar. Einer Rechnung von 1882 zufolge befand sich der Waageraum in einem „Nebengebäude“, neben einer Küche mit Kochherd, Siedeofen und Rauchmantel (Kaminhaube), und diente als Kohlenlager. Diese Beschreibung passt eher auf eine Stube im Hauptgebäude als auf den kleinen Stall, der südlich des Brauhauses stand. Um 1872 sollten 120 preußische Soldaten im Waagegebäude untergebracht werden. Zehn Jahre später richtete man in der Südhälfte des Gebäudes das städtische Krankenhaus ein, während die Nordhälfte als Wohnung an den Magistratsdiener verpachtet wurde. Auch der Waageraum wurde zur Aufnahme von Patienten umgebaut. 1891 wurde der Nordteil des Gebäudes ebenfalls dem Krankenhaus zugeschlagen. Dennoch wurde zehn Jahre später bemängelt, dass es aufgrund der beengten Räumlichkeiten nicht einmal einen gesonderten Aufenthaltsraum für die Insassen gab, und diese auch nicht zwischendurch auf einem separaten Hof an die frische Luft gehen konnten. 1912 verlegte man das Krankenhaus deshalb in ein neues Gebäude an der Groner Landstraße, beim Posthof, und riss das Gebäude am Waageplatz ab. Zuletzt war zusätzlich noch eine öffentliche „Desinfektionsanstalt“ im Waagehaus untergebracht, in der Kleider, Matratzen und Bettwäsche von Kranken desinfiziert wurden. Hierfür verwendete man heißen Wasserdampf, dem die Gegenstände in großen Kesseln ausgesetzt wurden, außerdem Formalin und Karbolsäure. So hoffte man, Typhus, Cholera, Pocken, Ruhr und andere Infektionskrankheiten eindämmen zu können.

Eingang zum Städtischen Hospital; rechts das Hinweisschild zur Desinfektionsanstalt. Foto: Städtisches Museum Göttingen.

Von der Nutzung des Leinekanals als Wasserlieferant und Abwasserkanal zeugen zwei vermauerte Öffnungen im weiteren Verlauf der Mauer Richtung Norden. Sie befanden sich in der südlichen Hälfte des Gebäudes. Der Leinekanal diente bis in das 19. Jahrhundert als Frisch- und Brauchwasserlieferant, aber auch als Kloake. In einem Plan des Brauhauses ist nahe der östlichen Außenmauer am Leinekanal ein Schachtbrunnen eingezeichnet, der vielleicht durch einen der Durchlässe in der Mauer mit Wasser versorgt wurde. Das Brauhaus war ja gerade deshalb an dieser Stelle errichtet worden, weil man viel Wasser zum Brauen benötigte, aber auch, weil man hier Abwässer vom Brauvorgang in den Leinekanal leiten konnte. Dies geschah offenbar über einen kleinen Kanal, der auf dem Platz westlich des Gebäudes des Wasser nach Norden, zur Brücke über den Leinekanal leitete, wie man auf einer Karte aus der Zeit um 1740 erkennen kann. Da das Wasser beim Brauen abgekocht wurde, bevor man die Hefe hinzugab, waren die hygienischen Anforderungen nicht so hoch, jedenfalls im Hinblick auf die bakterielle Verschmutzung des Wassers. Immerhin war das Wasser ja schon einmal fast durch die ganze Stadt geflossen, und viele andere Bürger hatten ihre Abwässer hineingeleitet.

Stadtplan von Göttingen, um 1735-40. 69: Neues Brauhaus, 70: Schlachthaus.

Südlich der Fußgängerbrücke öffnet sich ein großes Rohr mit einer Metallklappe in den Leinekanal. Hier mündete einst die Kuhleine in den Kanal. Sie floss bis in das 19. Jahrhundert hinein vom Groner Tor aus durch die Gärten der Neustadt, teilte sich in der Goetheallee in zwei Arme, die durch die beiden Maschstraßen geleitet wurden, und vereinte sich am Synagogenplatz wieder zu einem Lauf, der südlich des Gefängnisses zum Leinekanal führte.

Stadtplan: „Goettingae Ichnographia Inter Muros“. Stadtplan von Göttingen, um 1735-1740: Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Kartensammlung, Nr. 22 d Göttingen 15 pm.

Literatur:

Jens-Uwe Brinkmann, „Der gantzen Stadt zur Zierde und Annehmlichkeit“. Die öffentliche Bautätigkeit. In: H.-G. Schmeling/ J.-U. Brinkmann/ R. Rohrbach (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Texte und Materialien zur Ausstellung im städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen, 26. April – 30. August 1987 (Göttingen 1987), S. 255-324.

Werner von Westhafen, Die Desinfektionsanstalt I. In: Kreuzberger Chronik 44, Februar 2003, online: https://www.kreuzberger-chronik.de/chroniken/2003/februar/geschichte.html%7cGeschichte (24.2.2023).

Ausbau des alten Waagegebäudes zum städtischen Hospital, 1883-1904. Stadtarchiv Göttingen, Alte Hauptregistratur (AHR) I H Fach 8, Nr. 5.

Waagegebäude, 1870-1893. Stadtarchiv Göttingen, AHR I H Fach 19, Nr. 2 Bd. 1.

Ausbau des Waagegebäudes, 1891/92. Stadtarchiv Göttingen, AHR I H Fach 19, Nr. 2 Bd. 2.

Neues Brauhaus an der Leine bei der großen Mühle. Stadtarchiv Göttingen, Altes Aktenarchiv (AA) Nr. 1203.

Das alte Brauhaus an der Leine, 1746-1747. Stadtarchiv Göttingen, AA Nr. 1204.

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