Leerstelle mit Vergangenheit: Der Standort des ehemaligen Reformierten Studienhauses

Nördlich des Waageplatzes befindet sich ein kleiner Parkplatz, der den meisten Passanten nicht besonders auffällt. Dabei ist dieser Freiraum sowohl für sich historisch interessant, wie auch das Gebäude, das dort bis 1964 stand: das „Reformierte Studienhaus“.

Als Leerfläche zeugt das Areal von den zeitweise großen Freiflächen, die sich durch den Abriss vieler alter Häuser in der Innenstadt in den späten 1960er und 70er Jahren ergaben. Diese Flächen wurden zum Teil erst viele Jahre später wieder bebaut, wenn sich die Stadt, die Investoren und nicht zuletzt die Bürgerinitiativen geeinigt hatten, die sich gegen den Kahlschlag und den rücksichtslosen modernen Neubau wehrten. Der Abriss des Reformierten Studienhauses stand fast am Anfang dieser beispiellosen Umbauwut, der erhebliche Teile der Innenstadt zum Opfer fielen. Die Stadt war als eines von sechs Oberzentren in Niedersachsen vorgesehen, und dafür musste viel gebaut werden. Nach dem „Generalverkehrsplan“ des Bauingenieurs Johannes Schlums von der TU Hannover sollte die mittelalterliche, enge Innenstadt dem modernen Verkehr geöffnet und „erneuert“ werden. Eine Ringstraße, die von der Bürgerstraße über die Berliner Straße bis in den Nikolausberger Weg reichte, leitet seitdem die Autos um die Stadt herum. Mehrspurige Einfahrttrichter führen in die Außenbezirke der Altstadt, wo Parkhäuser und große Parkplätze Stellflächen für Beschäftigte und Ladenbummler bieten. Gebaut wurden die Parkhäuser am Groner Tor und am Geismar Tor, und dazu wurde ein großer Parkplatz am Geismar Tor etabliert. Nach dem Abriss der Häuser am Weender Tor und an der Reitstallstraße diente die Brachfläche dort lange als Parkplatz, bevor man wieder Wohn- und Geschäftshäuser errichtete. Umsatzfördernde Großkaufhäuser sollten die kleinteilige Ladenstruktur ersetzen bzw. ergänzen, die Göttingen bis dahin geprägt hatte.

Darüber hinaus suchte man nach einem Standort für ein neues Rathaus. Zwölf Plätze in und um die Altstadt wurden geprüft; davon wurde vor allem das Gelände des Reitstalls favorisiert, bevor man dann schließlich am Geismar Tor baute. Der kleine Parkplatz am Waageplatz war in diesem Kontext wohl kaum als Parkfläche von Interesse, sondern man wird vielmehr vorgehabt haben, nach und nach das Gelände für den Ausbau der Reitstallstraße zu einer mehrspurigen Zufahrt zum projektierten Rathaus vorzubereiten. Dazu kam es dann nicht mehr, und so blieb auch die Reitstallstraße bescheiden.

Das Reformierte Studienhaus bot fast ein halbes Jahrhundert lang Raum für ein interessantes Wohnprojekt: Ein Studenten-Wohnheim mit Vollverpflegung auf christlicher Basis. Die Mahlzeiten waren dabei kein Angebot, sondern Pflichtveranstaltungen; Zuspätkommen wurde mit einem (geringen) Strafgeld geahndet. Unter den Studenten fanden sich mehrheitlich Theologen, aber auch andere Fakultäten waren vertreten. Die „Corona“, wie die Bewohner sich in den 30er/40er Jahren nannten, bildete bald ein besonderes Gemeinschaftsgefühl aus. Die gemeinsamen Mahlzeiten und Andachten, zahlreiche Feste zur Begrüßung und Verabschiedung von Mitbewohnern, und schließlich gemeinsame, sonntägliche Ausflüge schweißten den „Freundeskreis“, als das sich die Bewohner gemäß der Hausordnung verstanden, zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammen. Dies schloss interne Neckereien nicht aus: In der „Chronik“ des Hauses, die von den Studenten geführt wurde, sind viele „Budenzauber“ festgehalten, mit denen sich die Zimmerinsassen gegenseitig piesackten. Auf der Tür drapierte Gießkannen, in den Schränken versteckte Wecker oder vertauschte Inventare sorgten für schlaflose Nächte, aber auch viel Gelächter. Die Chronik wurde sogar gedruckt, und so ist die Hausgeschichte zwischen 1938 und 1947 allgemein nachlesbar. Die großen politischen und welthistorischen Ereignisse finden darin nur am Rande einen Niederschlag, etwa indem das An- und Abreisen der jugendlichen Soldaten zu den Studienurlauben in Göttingen vermerkt ist, die sie im Haus verbrachten. Nur Gisela von Spankeren, die im Sommersemester 1943 die Chronik weiterschrieb, fühlte sich beschämt wegen der Fröhlichkeit, die im Haus herrschte, „im Angesicht all des Leides unserer Zeit“ und all dessen, was ihr Angst und Traurigkeit machte. Die „christliche Freude“ dürfe nicht an der Dunkelheit vorbeisehen, sondern könne trotzdem bestehen. Aus der Zeit, als die Maschstraßen bombardiert wurden, fehlen leider mehrere Trimester lang die Berichte. Nach dem Krieg wird die Brennstoffknappheit geschildert, die dazu zwang, im kalten Winter 1946/47 nur wenige Zimmer bzw. diese nur stundenweise zu beheizen. Die Fenster, die durch die Bomben zerstört waren, mussten durch Notbehelfe ersetzt werden, denn Glas war knapp. In den folgenden Jahren geriet die Chronik in Vergessenheit und tauchte erst 1963 bei Aufräumarbeiten wieder auf. Wie hatte sich nun die Zeit verändert! In dem Rückblick, mit der die Fortsetzung der Chronik einsetzt, wird betont, dass damals keine Hausordnung (mehr) nötig war, denn die Bewohner verhielten sich von selbst verantwortungsbewusst genug. In den 30er/40er Jahren sah man dies noch nicht so ungezwungen – wie erwähnt, gab es sogar Strafgebühren für das Zuspätkommen bei den Mahlzeiten. Die Strafgelder wurden allerdings dann bei gemeinsamen Kneipengängen ausgegeben, oder für Rosen investiert, die man bei einer Einladung zur Bowle beim Pastor der reformierten Gemeinde mitbrachte.

Das Gebäude des Studienhauses sah dem Haus der Heilsarmee nicht unähnlich, und es dürfte auch zur gleichen Zeit erbaut worden sein. Es beherbergte zunächst eine Gaststätte, den “Braunschweiger Hof“, die vorher in einem niedrigen Fachwerkhaus untergebracht war. Schon damals ging es um Modernisierung: Hohe, mehrgeschossige Backsteinhäuser traten an die Stelle der niedrigen, oft nur ein- oder zweistöckigen, meist barocken Fachwerkgebäude. 1921 wurde das Haus von der Reformierten Gemeinde erworben, mit Unterstützung aus den Niederlanden und von anderen Gemeinden. Man bemühte sich damals, in Göttingen eine Professur für reformierte Theologie zu installieren. Als erster Inhaber wurde Karl Barth berufen. Im Studienhaus sollten nur reformierte Studenten wohnen, und dort an Kursen zur calvinistischen Bibelexegese oder Zwinglis Bekenntnissen teilnehmen. Eine Vereinigung mit der übrigen evangelischen Studentenschaft lehnte man ab, denn die spezielle reformierte Identität spielte eine wichtige Rolle. Später sollten die ausgebildeten Theologen als Pastoren in die Gemeinden zurückkehren. Das Haus besaß einen U-förmigen Grundriss, mit einem schmalen Hof, der sich nach Westen öffnete. Im massiven Untergeschoss befand sich ein Gemeinschafts- und Speisezimmer (mit Klavier und selbst gezeichneter Portraitgalerie) und ein Kindergarten. Im Obergeschoss verband die „Kommandobrücke“ den straßenseitigen Flügel mit dem Trakt am Wall, der über ein eigenes Treppenhaus verfügte. Auf dem Flachdach sonnte man sich bei schönem Wetter, obwohl es nicht ganz ungefährlich war, sich dort aufzuhalten, denn es gab kein Geländer. Nach dem Abriss des Gebäudes ersetzte ein Neubau von Diez Brandi beim Theater das Wohnheim. Die Hauschronik wurde fortgesetzt, aber dieser Teil ist noch ungedruckt.

Fotos: Gottfried Wehr, Göttingen

Literatur

Dietrich Denecke, Göttingen: Materialien zur historischen Stadtgeographie und zur Stadtplanung. Erläuterungen zu Karten, Plänen und Diagrammen (Göttingen 1979).

Matthias Freudenberg (Hg.), Chronik des Reformierten Studienhauses in Göttingen 1938-1947 (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 2), Wuppertal 1999.

Hans-Dieter von Frieling, Erneuerung oder „Kahlschlagsanierung“? Der Umbau der Göttinger Innenstadt seit 1960. In: Kornelia Duwe, Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 126-137.

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