Blumentag – auch im Maschviertel

Die historische Aufnahme von der Goetheallee beim Graetzelhaus, auf der ein Karussell bei der Brücke über den Leinekanal zu sehen ist, entstand am sogenannten „Margeritentag“, dem 9. Juli 1911.

Foto: Stadtarchiv Göttingen

An diesem Tag war die Stadt festlich mit Blumengirlanden geschmückt, es gab einen Umzug durch die Straßen der Stadt, in denen sich tausende Menschen drängelten. Der Abend wurde mit einem Konzert und Tanz im „Stadtpark“ abgeschlossen; dazu gab es ein Feuerwerk. Während des ganzen Tages liefen zweihundert bis dreihundert „Blumenmädchen“ durch die Stadt und verteilten gegen eine Spende künstliche Margeriten sowie Postkarten. Der Erlös sollte der „Kinderwohlfahrt“ zugute kommen, also Kinderpflegevereinen, Ferienkolonien und Walderholungsstätten sowie ganz besonders Kinderkliniken. Die Käufer der Blumen steckten sich diese in die Knopflöcher oder zwischen die Schnürsenkel, so dass alle Bürger der Stadt an diesem Tag mit Blumen geschmückt waren. Die Blumenmädchen kamen aus den bürgerlichen Familien und zogen sich zur Feier des Tages die schönsten Kleider an.

Solche „Blumentage“ gab es nicht nur in Göttingen, sondern um 1910 auch in vielen anderen Städten im Kaiserreich. Die Idee zu dem Wohltätigkeitsfest kam aus Schweden, und ursprünglich wurden echte Blumen verkauft – neben Margeriten auch Kornblumen und andere Sorten. Die Margerite galt damals in besonderem Maße als „Blume der Barmherzigkeit“. Kaiserin Auguste Viktoria übernahm die Schirmherrschaft über diese Tage.

Die Vorbereitung der Feier verlief allerdings nicht ganz ohne Hemmnisse. Der ursprünglich geplante „Blumenwagenkorso“ der studentischen Korps wurde wegen eines Trauerfalls abgesagt; statt dessen wurde am Nachmittag ein Kinder- Sport- und Puppenwagenkorso mit über zweihundert unterschiedlichsten Vehikeln veranstaltet, darunter Wagen, die von Ziegenböcken und Hunden gezogen wurden, Bierwagen der städtischen Brauerei, Reitern und Radfahrern des Vereins „Möve“. Das Karussell in der Goetheallee war von der Verbindung „Luneburgia“ organisiert worden. Von einem Wagen mit der Aufschrift „Zum Akademischen Viertel“, der durch die Stadt fuhr, verkauften andere Studenten „Margaretenmilch für alle Stände und Fakultäten“.

Insgesamt wurden an diesem Tag ca. 120.000 Kunstblumen unters Volk gebracht. Allerdings erbrachten die Blumen „nur“ ein Spendengewinn von gut 10.000 Reichsmark, während die Veranstalter mit dem dreifachen Betrag gerechnet hatten. Einem Bericht im Göttinger Tageblatt vom 16. Juli 1911 zufolge war der Erfolg des Tages durch universitären Dünkel und einen regelrechten Boykott von Seiten der Kaufleute beeinträchtigt gewesen: Die Absage des Blumenkorsos durch die Korps sei nur vorgeblich wegen eines Todesfalls erfolgt; tatsächlich habe man die Teilnahme der Kaufleute, Handwerker und anderen Gewerbetreibenden der Stadt abgelehnt, die sich daraufhin brüskiert weigerten, ihre Geschäfte an dem Feiertag zu schmücken. Selbst unter den Professoren reisten viele an diesem Wochenende aus Göttingen weg, wie eine Nachfrage unter den Bäckereien ergab, bei denen sie ihre täglichen Brötchenlieferungen storniert hatten. Noch grundsätzlichere Kritik gab es an der Beschaffung der Blumen: Es handelte sich um Erzeugnisse aus Heimarbeit, die zu Dumpinglöhnen in Thüringen erworben worden waren. Der Preis von einem halben Pfennig pro Blume wurde als „Schundpreis“ kritisiert, und an den Blumen klebten die „Tränen der Kinderchen der armen Thüringer Heimarbeiterinnen“, da der größte Teil des Betrages auch noch den Händlern und Fabrikanten zufloss. Die Heimarbeiterinnen erhielten nur sieben Pfennig pro Stunde als Lohn. Andererseits boten solche Tätigkeiten in vielen Regionen, in denen die Menschen z.B. durch den Niedergang des Bergbaus oder der Handweberei verarmt waren, wenigstens eine geringe Einkommensquelle. Dennoch waren die Kritik und die Konflikte um die Organisation des Margeritentages in Göttingen so gravierend, dass es bei diesem einen Tag blieb.

Grafik: Brinkmann 1991, S. 149.

Literatur

Jens-Uwe Brinkmann, Bürgerliche Wohltätigkeit und „Jahrmarkt der Eitelkeiten“. Der Göttinger Blumentag am 9. Juli 1911. In: Jahresblätter für Göttingen und das Eichsfeld 14, 1991, S. 144-152.

Stichwort „Blumentag“ bei Wikipedia, 4.2.2023.