Mittelalterliches Rennen und Stechen auf dem Waageplatz

Ein alter Name für den Waageplatz lautet „Kleiner Freudenberg“. Der „große Freudenberg“ befand sich an der Stelle des späteren Reitstalls bzw. des jetzigen Carré-Gebäudes. Die Namen verweisen auf die glänzenden Turniere, „Hof- und Freudenfeste“, die hier im 14. und 15. Jahrhundert abgehalten wurden.

Die Listen der Teilnehmer sind im Göttinger Urkundenbuch nachzulesen, denn der Rat der Stadt empfing die Gäste und schenkte ihnen Wein aus – allein 1376 fast 300 Liter. Unter Herzog Otto dem Quaden sind mindestens fünf Turniere bezeugt: drei große Turniere wurden am 5. Februar 1368, am 20. Oktober 1370 und am 22. Februar 1376 abgehalten, kleinere am 5. Oktober 1371 und am 25. Juni 1374. Als Gäste führt der Chronist Franziscus Lubecus für 1374 den Grafen von Hohnstein und die Sternergesellschaft an, also eine Rittergesellschaft, die um 1370 zur Bekämpfung der hessischen Landgrafen Heinrich II. und Hermann II. ins Leben gerufen worden war. Ihr gehörten neben dem Mainzer Erzbischof und dem Paderborner Bischof die Grafen von Nassau-Dillenburg, von Katzenelnbogen, von der Mark und von Waldeck, die Äbte von Fulda und Hersfeld sowie zahlreiche Ritter an. Ob sie alle nach Göttingen kamen, ist nicht überliefert. Die Besucherliste des Rates für das Turnier von 1368 führt aber ca. 160 adelige Teilnehmer aus Niedersachsen, Westfalen, Hessen und Thüringen namentlich auf – bei etwa 6000 Einwohnern, die die Stadt damals besaß, eine erhebliche Anzahl, die verköstigt und untergebracht werden musste, zumal jeder Ritter noch einige Begleiter mitbrachte! Zusätzlich kamen Bürger aus den Städten Kassel, Fritzlar, Einbeck, Duderstadt, Northeim und Uslar zu dem Turnier, das offenbar noch nicht gegenüber den bürgerlichen Oberschichten abgeschlossen war. Nachdem sich die Stadt 1387 mit Herzog Otto überworfen und die Stadtburg Bolrutz zerstört hatte, fanden offenbar keine Turniere mehr statt; erst Herzog Wilhelm der Jüngere veranstaltete 1457 wieder einen „Renne- und Stecheplan“. Er hatte jedoch Pech: Ein schweres Unwetter zwang die Gäste, in den nahegelegenen Häusern an der Weender Straße Schutz zu suchen, wie der Chronist Franziscus Lubecus schreibt. Ein letztes Turnier erwähnt er zum Jahr 1500, als die Truppen des Landgrafen Wilhelm von Hessen in Göttingen die Tochter des mecklenburgischen Herzogs Magnus, Anna, in Empfang nahmen, um sie nach Kassel zu geleiten. Die Reiter des Herzogs, etwa 400 an der Zahl, maßen sich mit den 80 hessischen Reitern im Turnier, wofür der Rat Wein und Hafer spendete. Auch gebührende Geschenke wurden überreicht. Die Turniere waren also für die Bürgerschaft recht kostspielig, aber sie boten natürlich auch eine Gelegenheit, um sich stolz den hohen Gästen zu präsentieren. Die Turniere waren zudem sicherlich ein unvergessliches Ereignis im Alltag der Stadtbewohner. In den Urkunden ist beispielsweise vermerkt, dass viele schöne Frauen in kostbaren purpurnen Gewändern kamen, deren Ketten und Gürtel „schur-schur-schur kling-kling-kling“ machten (so der Ratsschreiber 1376). Im späten 15. und 16. Jahrhundert kamen allerdings auch einige Legenden auf: So soll in Göttingen das neunte Turnier im Reich überhaupt stattgefunden haben, wie der Reichsherold Georg Rüxner in seinem Turnierbuch schreibt; andere Chronisten verorten in Göttingen sogar das erste Turnier überhaupt; dazu sollen die Statuten für die Turniere hier niedergeschrieben worden sein. Allerdings fiel schon den Zeitgenossen auf, dass es keine sicheren Belege dafür gibt. Zudem werden die Turniere (oder vergleichbare Wettkämpfe) zunächst bei der Pfalz in Grone bzw. auf dem Hagenberg stattgefunden haben. Dennoch dürfte es kein Zufall sein, dass Göttingen in der Aufzählung der frühesten Turniere auftaucht: Die Bürger beriefen sich möglicherweise in ihrem Bemühen, an den Turnieren teilnehmen zu dürfen, auf die Teilnehmerliste des Göttinger Rates, die ja ausdrücklich die Bürger benachbarter Städte auflistet. Georg Rüxner hingegen führt nur adelige Teilnehmer auf, besonders Herzöge und Grafen (deren Familien damals noch gar nicht unter diesem Namen bekannt waren, und manchmal existierten nicht einmal die Burgen, nach denen sie benannt waren!). Er versuchte also mit seinen Beispielen zu beweisen, dass die Turniere von Anfang an eine rein adelige Angelegenheit waren.

Abgesehen von den Ritterkämpfen zu Pferde wurde auf dem „Großen Freudenberg“ der „Schützenhof“ abgehalten, d.h. das Wettschießen der Schützengilde. Das erste „Schießen nach dem Papagei“, wie die Veranstaltung auch genannt wurde, fand im Sommer 1392 statt. Der Papagei war ein bunt bemalter Vogel, dessen Körperteile unterschiedlich viele Punkte einbrachten, wenn sie getroffen wurden. Im 17. Jahrhundert wurde der Name auf die exotischen Vögel aus Südamerika übertragen. Anfangs kamen beim „Vogelschießen“ Armbrüste zum Einsatz, später auch Büchsen und andere Geschütze. Der Pfosten, auf dem der Vogel angebracht war, musste 1415 mit Eisen beschlagen werden. Ein Wall, den man ringsum aufgeschüttet hatte, sollte Querschläger zurückhalten (wie heute noch bei Schießanlagen üblich), denn die frühen Büchsen schossen sehr ungenau. Dieser Wall musste ständig verstärkt und erhöht werden, denn die Schusskraft wurde im Laufe der Zeit immer größer. 1420 spendete der Rat außerdem 600 (Dach-) Ziegel für das „Schuttehus up dem Vroydenberge“, also ein Haus, in welchem die Versammlungen der Schützengilde stattfanden. Ihr gehörten damals ca. 40-50 „Gesellen“ an, von denen jeder vom Rat 1 Schilling für den Verdienstausfall an dem Tag erhielten, an welchem der „Schützenhof“ stattfand, denn er förderte damit die Wehrkraft der Bürger. Die Gilde reiste auch in benachbarte Städte, um an dortigen Schützenfesten teilzunehmen, etwa nach Gandersheim, Heiligenstadt oder Uslar. Auf den Sieger wartete jeweils ein silberner Vogel, für den der Rat 1418 explizit 23 Schilling bezahlte. Solche Vögel haben sich bei einigen Schützengilden noch erhalten (z.B. in Duderstadt): Sie wurden an einer Kette getragen, zusammen mit Plaketten, die die Namen der Schützenkönige trugen. Der Vogel der Schützenbruderschaft in Gindorf bei Grevenbroich soll schon aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammen, aber zu dieser Zeit wurden die Bogen- und Armbrustschützen noch von der Kirche mit Exkommunikation und Bann bedroht. Kürzlich wurde bei Rees ein solcher Silbervogel aus dem Jahr 1569 von einem Sondengänger entdeckt. Das Göttinger Schützenhaus wurde 1632 abgebrochen und später auf der Großen Masch, dem jetzigen Schützenplatz bzw. dem Gelände der Lokhalle und des Otto-Hahn-Gymnasiums wieder aufgebaut. Es gab allerdings lange Zeit Streit um das Gebiet, denn der Pulverdampf störte die Leinweber, die dort ihre Tuche bleichten. 

Auf dem „Großen Freudenberg“ wurde nach der Gründung der Universität der Reitstall errichtet, während man auf dem „Kleinen Freudenberg“ 1735 ein Brauhaus baute, und nördlich davon ein Schlachthaus (das aber wegen des Widerstands der Knochenhauergilde unbenutzt blieb). Die Gebäude sind auf einem Stadtplan aus der Zeit um 1730-1750 eingezeichnet, der sich im Niedersächsischen Landesarchiv Hannover befindet (Nr. 69, 70). Als mit dem Aufkommen des Kaffeetrinkens weniger Bier konsumiert wurde, verlor das Brauhaus weitgehend seine Funktion und wurde 1780 in das erste öffentliche Badehaus umgewandelt. Nachdem der Bauunternehmer Rohns am Albanitor 1820 ein neues Badehaus errichtet hatte, brachte man im ehemaligen Brauhaus eine Kaserne unter, die wegen der beengten Verhältnisse aber schon um 1835 in einen Neubau am 82er Platz verlegt wurde (heute Hiroshima-Platz). Das Gebäude beherbergte nun das städtische Krankenhaus und eine „Desinfektionsanstalt“. 1912 wurde auch das Krankenhaus durch einen Neubau an der Groner Landstraße ersetzt und das Brauhaus endgültig abgerissen.

Goettingae Ichnographia Inter Muros“. Stadtplan von Göttingen, um 1730-1750: Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Kartensammlung, Nr. 22 d Göttingen 15 pm.

Literatur

Ernst Böhme, Göttingen ändert sein Gesicht. Stadtentwicklung zwischen 1650 und 1866. In: E. Böhme/ R. Vierhaus (Hrsg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648-1866) (Göttingen 2002), S. 429-450.

Jens-Uwe Brinkmann, „Der gantzen Stadt zur Zierde und Annehmlichkeit“. Die öffentliche Bautätigkeit. In: H.-G. Schmeling/ J.-U. Brinkmann/ R. Rohrbach (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Texte und Materialien zur Ausstellung im städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen, 26. April – 30. August 1987 (Göttingen 1987), S. 255-324.

C. Keller/ K. Kraus, Ein Vogel für den König. In: Archäologie in Deutschland 39, Nr. 1, 2023, S. 61.

Reinhard Vogelsang (Ed.), Franciscus Lubecus, Göttinger Annalen von den Anfängen bis zum Jahr 1588 (Göttingen 1994).

Gunther Meinhardt, 600 Jahre Bürger-Schützen-Gesellschaft Göttingen 1392-1992 (Gudensberg-Gleichen 1992).

Georg Rüxner, Thurnier-Buch. Von Anfang, Ursachen, Ursprung und Herkommen der Thurnier im heyligen Römischen Reich Teutscher Nation (…) (Frankfurt am Main 1566). (Google Books)

Heinrich Troe, Straßennamen und Straßennetz der Stadt Göttingen im späten Mittelalter, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Band 1: Von den Anfängen bis zum Dreißigjährigen Krieg, hrsg. v. D. Denecke/ H.-M. Kühn, Göttingen 1987, S. 107-160.

Gustav Schmidt, Urkundenbuch der Stadt Göttingen bis zum Jahre 1400. Urkundenbuch der Stadt Göttingen, Band 1 (Hannover 1863).

Gustav Schmidt, Urkundenbuch der Stadt Göttingen vom Jahre 1401 bis 1500. Urkundenbuch der Stadt Göttingen, Band 2 (Hannover 1867).