Universitätswaisenhaus

Für 187 Jahre von 1751 bis 1938 gab es das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-str. 3. Es sollen mehr als 750 Kinder in dieser Zeit hier groß geworden sein. Die Anwesenheit so vieler Kinder muss die Straße und das ganze Viertel mit ihrer Lebendigkeit sehr geprägt haben. Aber wie hat das Leben der Kinder dort ausgesehen? Auf welche Art und Weise hat das Waisenhaus die Straße geprägt? Und wie war die Beziehung zu der Nachbarschaft?

Universitätswaisenhaus um 1898

Das Gebäude in der Unteren-Masch-str. 3 wurde 1750 erworben und ein Jahr später lebten 22 Kinder in dem neuen Waisenhaus. Dieses war der theologischen Fakultät unterstellt, die aber wenig Einfluss ausübte und wenig finanzielle Hilfe leistete. In den folgenden Jahren trug sich das Waisenhaus durch eigen erwirtschaftetes weitgehend selbst. Nach der Übernahme von Teilen des Hauses durch NS-Stellen wurde der Betrieb als Waisenhaus 1938 beendet.

Als Waise galten auch Kinder, die ein Elternteil verloren hatten. Vaterlosigkeit führte dabei häufiger zu Aufnahme im Waisenhaus. Allerdings gab es feste Regeln, welche Kinder aufgenommen werden durften und welche nicht. So durfte fast ausschließlich evangelische Bürgerkinder aufgenommen werden. Katholische Kinder wurden erst ab 1840/41 akzeptiert. Ausgeschlossen waren alle Kinder, die nicht von Göttinger Bürgerinnen und Bürgern abstammten, uneheliche Kinder und kranke. Das Mindestalter war acht Jahre. In anderen Waisenhäusern lag die Grenze meist bei sechs oder sieben Jahren. Der Tagesablauf war streng geregelt. Dabei wurden Ordnung, Sauberkeit und Fleiß als besonders wichtig empfunden. Aus dem 18. Jahrhundert relativ früh nach der Gründung des Waisenhauses, ist ein detaillierter Tagesablauf erhalten. Dieser beginnt um 5:00 Uhr mit dem Aufstehen. Alle Kinder mussten zusammen beten und anschließend an die Arbeit gehen. Diese bestand aus der Spinnerei. Dabei durfte gesungen werden und ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen werden. Anschließend wurden die Kinder zu diesem Kapitel abgefragt, um ihr Wissen zu prüfen. Von 8:00 Uhr bis um 11:00 Uhr fand Schulunterricht statt. Anschließend gibt es Mittagessen und währenddessen wurden Geschichten von „christlichen und gutartigen Kindern“ vorgelesen. Danach hatten die Kinder eine Stunde freie Zeit zum Spielen. Den Nachmittag über wurde die Arbeit in der Spinnerei fortgesetzt und parallel fand Unterricht statt. Nach dem Abendessen wurde bis um 9:00 Uhr eine weitere Stunde gearbeitet. Hier sehen wir das körperliche Arbeit und Unterrichtung in der Bibel den Tag der Kinder bestimmt hat. Für Spiel und Freizeit war nur eine Stunde vorgesehen. An den Sonntagen wurde zwar nicht gearbeitet, aber der Tag war mit Predigten, Gottesdienst, Lesung und Prüfungen fast vollständig ausgefüllt.

Die viele körperliche Arbeit wurde als notwendiger Teil der Erziehung angesehen. Die Kinder sollten an harte Arbeit gewöhnt werden. Arbeit galt als Voraussetzung eines gottgefälligen Lebens. Hauptziel war dabei die Eingliederung der Kinder in ihren „Stand“. Viele der Kinder wurden so im Handwerk untergebracht, allerdings gab es hier auch Schwierigkeiten wegen Vorurteilen gegenüber den Waisen. Teil der Erziehung war auch ein Sittenregister für die Kinder. So wird die Geschichte eines kleinen Jungen erzählt, der ein Brot aus dem Vorratskeller des Waisenhauses gestohlen hatte, um sich aus dem Verkauf „Näschereien und Spielsachen“ zu kaufen. Er wurde mit dem Verweis aus dem Waisenhaus bestraft.

In Göttingen versuchte das Waisenhaus Verbindungen zu den großen Textilfabrikanten herzustellen wie Grätzel und Funke. Dadurch sollten die Kinder die Spinnerei erlernen und ihnen eine Zukunft sichern. Zentral war jedoch das in erster Linie dadurch billige/unbezahlte Arbeitskräfte gewonnen wurden. Weil sich die Anstellung von Kindern für die Unternehmer aber nicht als rentabel genug erwies, wurde die Spinnerei wieder eingestellt. Bis 1774 gingen die Waisenkinder mit anderen armen Kindern aus der Stadt in die Armenschule, die im Waisenhaus untergebracht war. Im gleichen Jahr wurde diese geschlossen und die anderen Kinder auf Pfarrschulen verteilt, nur die Waisenkinder wurden weiterhin im Haus unterrichtet. Im 19. Jh. gingen die Arbeitsstunden zurück und beschränkten sich auf drei Stunden am Tag. Die Arbeit wurde in Haus und Hof verrichtet. Wiederholt gab es Pflichtverletzungen durch das Personal. 1907 wurde die Waisenmutter Bosse wegen Körperverletzung eines Mädchens angezeigt. Sie wurden zuerst zu einer Geld- bzw. Gefängnisstrafe verurteilt und dann aber freigesprochen. Die Kinder waren aufgrund ihrer blauen Uniform als Waisen zu erkennen. Später trugen sie wegen hoher Indigo preise eine graue Uniform mit einem roten W auf dem Ärmel. Dies änderte sich bis zur Übernahme durch die HJ nicht. Anfang der 1920er Jahre wurde am Kreuzbergring ein neues Gebäude für das Waisenhaus gebaut. Das alte Gebäude in der Unteren-Masch wurde im Januar 1921 an die Stadt verkauft, die es renovieren und in sechs Mietwohnungen aufteilen ließ.

Universitätswaisenhaus um 1900

Zwei mal im Jahr gab es Feiern. Die eine fand am Weihnachtsabend statt. Die zweite Feier, das „Wirthsfest“, fand am 31. Juli statt. Anlass war der Geburtstag des 1839 verstorbenen Dr. Wirth der dem Waisenhaus fast sein gesamtes Vermögen vermacht hatte. Aus diesem Anlass wurde die Untere-Masch-Str. 3 festlich geschmückt. Die Feiern bestanden wohl vor allem aus Ansprachen und Andachten von Mitgliedern der theologischen Fakultät. Das Wirthsfest fand Anfang der 1910er Jahre nicht mehr in der Unteren Masch statt, wie aus einem Leserbrief aus den Göttinger Monatsblättern (Ausgabe Oktober 1979) hervorgeht. Karl Wachsmund erinnert sich an seine Zeit im Waisenhaus zwischen 1909 und 1914. Hier ein Ausschnitt:

Kleine Freuden der Jugend – damals

„Kleine Freuden – wir steigen ein in die Gartetalbahn. Wir fahren bis zu der Station „Waterloo“. Im Waisenhaus Untere Masch 3 bleibt nur eine Magd zurück, ein älteres Fakotum, zur Versorgung der Schweine, Kühe und Hühner. Alle Jahre wieder wird dort das Wirtz(s) – Fest gefeiert. Wesshalb es so hieß? Der Historiker müsste es wissen! – Am Ziel wird mit Kaffee, Lakritzenwasser und Brot der Magen gefüllt. Dann wird gespielt. Viele der damaligen Belustigungen sind heute vergessen, würden manche Kinder langweilen, wie z.B Stelzenlaufen, Topfschlagen, Knickerspiele. Das ist nicht mehr „in“. Damals gab es allerdings auch Kriegspiele auf dem „Kleinen Hagen“, ein Stadtteil kämpfte gegen den anderen.  Solche Auseinandersetzungen kämen heute unter Umständen sogar vor das Jugendgericht, wie ich aus meiner eigenen Arbeit in der Jugendgerichtshilfe jetzt weiß. Das bekannteste Spiel damals „Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht um.“ Wieder eine Erinnerung aus der Zeit: Der Wächter vom Turm der Johanniskirche bläst bereits um 8:15 Uhr und Enkel, der zwölfjährige W. Grimme ist unser Freund und wir sind mit ihm zusammen stolz.“

Einen interessanten Artikel zum Waisenhaus gibt es hier: https://goettingensozial.wordpress.com/2013/01/08/das-universitatswaisenhaus/

Quellen:

Meumann, Markus. Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus. Das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938 (Göttingen, 1997)

Abb.1:  Städtisches Museum Göttingen. Untere-Masch-Straße 3-5 um 1898 Nr. 3 Universitäts Waisenhaus. Siehe Kreuzbergring 57. Bibl.Museum 4 S 91.

Abb.2: Klick, Larissa. (2013, 31.01). Das Universitätswaisenhaus. Zwischen Aufklärung und Arbeitserziehung. https://goettingensozial.wordpress.com/2013/01/08/das-universitatswaisenhaus/ (06.01.2023)