Unsere Nachbarin und Gesprächpartnerin für ein Zeitzeuginnen Gespräch war Gewerkschaftlerin und erwähnte den einen oder anderen Besuch im Gewerkschaftshaus Obere-Marsch-Str. 10. Für mich blieb die Frage offen, ob das Haus eine Bedeutung für unsere Nachbarschaft hatte. Um dem auf die Spur zu gehen, hatten wir bei unserem Besuch im Stadtarchiv auch nach Quellen zur OM10 gebeten. In einem anderen Gespräch erwähnte ein Nachbar das „Volksheim“, in dessen Nachfolge das Gewerkschaftshaus stand. So war ich hoch erfreut, als ich in dem Buch „Göttingen ohne Gänseliesel – Texte und Bilder zur Stadtgeschichte“ auf einen ausführlichen Artikel zur Geschichte des Volksheims stieß:
Die Gewerkschaftsbewegung in Göttingen hatte keine guten Voraussetzungen. Wie heute war Göttingen auch im 19ten Jahrhundert eine Universitätsstadt ohne große Industrie. Unter den Angestellten und Beamten waren Gewerkschaftsmitglieder zu Beginn des Jahrhunderts selten, und somit waren auch die finanziellen Mittel begrenzt. Um sich zu treffen, waren die Arbeitenden auf die Gunst der Wirte angewiesen. In den Kneipen wurden Lesungen und eine eigene Bibliothek organisiert, es wurde sich politisch gestritten und Feste wurden gefeiert. Das Anmieten der “Kaiserhalle”, die heutige “Alte Mensa” am Wilhemlsplatz, wurde als Glücksfall gesehen. Neben der Nutzung des Saals konnten dort auch einige Büroräume eingerichtet werden. Doch für die ca. 20 verschiedenen freien Gewerkschaften war der Platz nicht ausreichend. Der Traum von einem eigenen Haus entstand. Nach dem ersten Weltkrieg und den mehr oder weniger erfolgreichen Revolutionen stieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf ein dreifaches. Sowohl um sich zu treffen als auch, um diese Organisationen zu verwalten und sich gegenseitig zu schulen, wurde es notwendig, ein eigenes Gebäude zu haben, wenn möglich, eines zu kaufen.
Um diesen Wunsch umzusetzen, wurde im Mai 1921 der Verein “Solidarität e.V. Göttingen” gegründet. Zum einen, um vor dem Gesetz ein Gebäude kaufen zu können, als auch, um das nötige Geld zu sammeln. Entgegen den Erwartungen konnte das Ziel in wenigen Monaten erreicht werden. Das Lokal “Bürgerpark” im Maschmühlenweg wurde mit Mitgliedsbeiträgen, Spenden und einem Kredit gekauft und beherbergte ab September das “Volksheim”. Nach einigen baulichen Veränderungen gab es dort neben Büros und Lagerräumen eine Bibliothek, eine Kneipe mit Kegelbahn und mehrere Säle, die sowohl für Vorträge und Versammlungen wie auch als Treffpunkt der Arbeitenden diente. Es gab täglich Mittagessen zu erschwinglichen Preisen, und um den zu kleinen Wohnungen zu entfliehen, wurde sich auch nach Feierabend hier aufgehalten. Die Betriebsräte verschiedener Unternehmen aus Stadt und Umland kamen hier zum Stammtisch zusammen, und das Volksheim wurde zum Vereinsheim verschiedener Arbeitersport- und Arbeitergesangsvereine. Die freien Gewerkschaften waren ab sofort unabhängig von Einzelpersonen, die ihnen Räume zur Verfügung stellten. Dieses Haus gab den Arbeitenden die Möglichkeit, Geselligkeit und politische Arbeit zu verknüpfen und sich kulturell zu entfalten. Sowohl die Zusammenführung der verschiedenen Gewerkschaften in einem Haus, als auch die Lage dessen in Nähe der Innenstadt und des Bahnhofs stärkte die Bewegung in den ‘20er Jahren.
Mit dem Erstaken der Nationalsozialisten wurde das Volksheim aufgrund seiner symbolischen Bedeutung zur Zielscheibe. Es gab mehrere Angriffe auf das Haus und gegen Arbeiter*innen auf dem Heimweg. Der Wahlsieg der NSDAP 1932 in Göttingen mit 51% der Stimmen zeigt, mit was für Herrausforderungen der Gewerkschaftskampf hier zu tun hatte. Nach dem Verbot der SPD 1933 wurde auch auf dem Volksheim die Hakenkreuzfahne gehisst. Die Gastwirtschaft hatte unter neuer Leitung noch bis 1940 Bestand, aber die früheren Nutzer*innen blieben fern. Vom “pulsierenden Leben” im Volksheim blieb nichts übrig, und schlussendlich wurde es 1944 bei einer der wenigen Bombardierungen der Stadt zerstört.
Nach dem Krieg suchten die sich im Wiederaufbau befindenen Gewerkschaften neu nach einem Haus. Aus Mangel finanzieller Möglichkeiten zum Wiederaufbau der Synagoge entschied die jüdische Gemeinde das Grundstück an den neu gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund, also eine andere Opfergruppe der Nationalsozialisten, zu verkaufen. Dort wurde 1952-55 ein neues Gewerkschaftshaus errichtet, welches bis heute in unserem Viertel steht. Eine neue Zeit brach an, mit einem neuen Gewerkschaftsverständnis. Es gab nun keine Gastwirtschaft mehr und nur einen kleinen Saal, dafür ein funktionales Verwaltungsgebäude voller Büros, wo die verschiedenen Gewerkschaften Platz fanden. Arbeiter*innen betraten dieses nun um die Dienstleistungen der Gewerkschaften in Anspruch zu nehmen.
Über die folgenden 54 Jahre wissen wir bisher kaum etwas. Wie wurde das Haus von Arbeitenden und Nachbar*innen wahrgenommen? Wer ging hier ein und aus? Wenn das Volksheim als Treffpunkt so notwendig war, wo findet in der Folge der Austausch zwischen Arbeitenden untereinander und mit den Gewerkschaftler*innen statt? Gab es andere offene Räume? Ist die Arbeiter*innenkultur anderswo wiederbelebt worden? Wurde sich wieder in den verschiedenen Kneipen der Stadt getroffen? Wo wurde nun gekegelt? Bis 2009 wurde in der OM10 anscheinend verwaltet. Nach versäumter Sanierung suchten sich die Gewerkschaften einen neuen Standort und das Haus stand leer. 2015 wurde das Gebäude besetzt und in den folgenden Jahren gekauft, saniert und umfunktioniert.
Die Geschichte vom Volksheim ist für mich ein Bespiel, wie die Menschen sich zusammenschließen, sich ihrer Möglichkeiten, ihrer politischen Stärke bewusst wurden und sich die Räume geschaffen haben, die sie brauchten.
Quelle: “Göttingen ohne Gänseliesel” ISBN 3-925277-26-9