Gefängnisseelsorge in der alten JVA

„Justitia“, Kapitell am Portal des früheren Obergerichtsgebäudes.

Schon im 18. Jahrhundert, als die ersten großen Gefängnisse entstanden, erkannte man, dass Häftlinge in Gefängnissen nicht nur von der Gesellschaft ausgeschlossen werden sollten. Vielmehr sei es geboten, sich nicht nur im Rahmen der „christlichen Liebestätigkeit“, sondern auch mit dem Blick auf ihre spätere Freilassung darum zu bemühen, ihnen eine Lebensperspektive zu bieten (z.B. John Howard und Elizabeth Fry in England, vgl. Brandt 1985, S. 21ff.). Theodor Fliedner begann im Rheinland 1825 damit, regelmäßig Gottesdienste in Gefängnissen abzuhalten. Er bemerkte dabei, dass viele Gefangene große Defizite in ihrer Schulbildung besaßen, und den Tag bei Karten- und Würfelspiel zubrachten. Er forderte, die Gefangenenhäuser sollten, statt „moralische Pestanstalten“ zu sein, der Besserung und Ausbildung der Häftlinge dienen, um sie vor dem Rückfall in die Kriminalität zu bewahren. Der Arzt Nikolaus Heinrich Julius aus Hamburg versuchte, die Ursachen der Kriminalität empirisch zu ergründen. Er sah in der industriellen Revolution die Gefahr, dass die familiären Strukturen, die den Menschen Halt gegeben hatten, durch den Fortschritt zerbrachen, und rücksichtsloses Profitstreben das Handeln bestimmte. Unter seiner Federführung wurden ab 1840 für Preußen die ersten Richtlinien für eine Gefängnisreform und die Gefangenenseelsorge entworfen. Auch im Königreich Hannover wurde die Seelsorge in den „Gefangenhäusern“ 1842 durch ein Gesetz geregelt (Kirchenkreisarchiv Göttingen, Stadtsuperintendentur, Akte A 341 II). Die Gerichte sollten demnach mit einem Geistlichen vereinbaren, dass dieser alle 14 Tage eine „Erbauungsstunde“ abhält, oder einzelne Gefangene auf Wunsch unabhängig davon aufsucht. Die „geistliche Pflege der Gefangenen“ sollte in ihnen eine „religiöse und moralisch gute Stimmung, Reue, Buße und Bekehrung“ hervorrufen und stärken, durfte sich aber nicht speziell auf den Verfahrensinhalt beziehen, außer, die Gefangenen gestanden ihnen wichtige Details. Die Priester sollten zudem „Erbauungsbücher“ organisieren, die die Gefangenen lesen konnten. Nach Bedarf konnte auch Unterricht in der „christlichen Religion und Sittenlehre“ erteilt werden. 1857 wurde die „Instruction, die christliche Seelsorge bei den in Gefangenhäusern verhafteten Personen betreffend“ noch einmal erneuert, auf die geltenden Gesetze abgestimmt und „thunlichst“ eine geistliche Pflege der Betroffenen eingefordert.

„Instruction“ zur Seelsorge in den Gefängnissen des Königreichs Hannover von 1857. Quelle: Kirchenkreisarchiv Göttingen, Stadtsup., A 341 II (Seelsorge 1817-1924).

In Göttingen wurde nunmehr der Hilfspfarrer Carl Wilhelm Haenell von St. Marien mit der Seelsorge betraut. Die Akten, die sich im Kreiskirchenarchiv dazu erhalten haben, bieten neben wertvollen Informationen zur allgemeinen sozialen Lage auch einen Einblick in den Alltag im „Gefangenenhaus“ am Waageplatz (KKA, Stadtsup., A 341 II). In dem Konvolut befinden sich auch ältere Briefe an den Pfarrer von St. Marien, in denen er z.B. nach dem Lebenswandel von Angeklagten befragt wurde, vor allem aber nach Geburts- und Taufzeugnissen auswärtiger Personen, die während der 1820er/30er Jahre als uneheliche Kinder im Göttinger „Entbindungshaus“, dem sogenannten Accouchierhaus, zur Welt gekommen waren (vgl. zu ähnlichen Fällen Schlumbohm 2018, S. 163ff.). Gelegentlich finden sich Angaben zum Beruf der Betroffenen oder ihrer Eltern: Es handelte sich demnach um Tagelöhner, Landarbeiter und Hausknechte. Ihr Alter lag um 20-30 Jahre, teilweise aber auch nur bei 14-17 Jahren. Die Angeklagten waren in Weende, Bremke, Reckershausen, Northeim, Beienrode, Eschershausen, Moringen, Bishausen und Osterode ansässig, was den weiten Zuständigkeitsbereich des Gefängnisses (und der Geburtsklinik) illustriert. Prediger wurden auch damit beauftragt, „Reinigungseide“ von Angeklagten entgegenzunehmen, etwa 1845 von zwei Husaren aus Osnabrück, die der Körperverletzung beschuldigt wurden. Hierfür waren allerdings die Garnisons-Prediger zuständig.

Das Briefsiegel der Staatsanwaltschaft des Obergerichts Göttingen, von einem Brief der Kronanwaltschaft an den Superintendenten Rocholl vom 18.10.1875, KKA Göttingen, Stadtsup., A 341 II (Seelsorge 1817-1924).

Handelte es sich hierbei meist um Bitten um eine Auskunft oder Amtshilfe, so kamen die Pastoren auch schon vor 1857 in engeren persönlichen Kontakt mit straffälligen Personen. 1855 wurde beispielsweise ein „Knabe“ Wilhelm F. aus Reifenhausen der besonderen Fürsorge des Predigers anempfohlen. Er war wegen Diebstahl zu einer zweimonatigen Haft verurteilt worden, die sogar „durch Einsamkeit verschärft“ sein sollte. Die alternative Unterbringung in einem „Rettungshause“ hatte sich wegen der Weigerung der Eltern zerschlagen, eine dafür notwendige Erklärung abzugeben. Die „Rettungshäuser“ waren sozialpädagogische Einrichtungen zur Förderung „verwahrloster“ Kinder, die in einer pietistischen Tradition Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, etwa von Johannes Daniel Falk und Johann Heinrich Wichern. Das Schicksal des Göttinger Jungen muss man sich jedoch aus diesen dürren Zeilen zusammenreimen. Weitere Details zu jugendlichen Häftlingen erfährt man im ersten Bericht des Hilfspfarrers Haenell zur Amtsführung als Gefängnisseelsorger in den Jahren 1857/58. Damals waren zwei Jungen im Alter von 13 und 16 Jahren im Gefängnis inhaftiert, die noch nicht konfirmiert waren. Der Dreizehnjährige war schon zum zweiten Mal bestraft. Nach Einschätzung des Geistlichen „fehlte es ihm nicht an religiöser Erkenntnis“, aber er sei „ganz verdorben“. Er ließ ihn die ersten beiden Abschnitte des Katechismus auswendig lernen: über die zehn Gebote und den Glauben. Ob er den Jungen damit auf Dauer von einer Gefängniskarriere abhalten konnte, sei dahingestellt. Der Sechszehnjährige, der wegen Diebstahls verurteilt worden war, konnte nicht lesen und „war ohne alle Religionserkenntnis“. Haenell stellte daher den Antrag, ihm Unterricht erteilen zu lassen.

Nach der Einschätzung des Hilfspfarrers war allerdings „die Mehrzahl der Gefangenen“, also auch die Älteren, „des Unterrichts bedürftig“. Die Geschichten und Personen der Bibel waren ihnen oft nicht näher bekannt. So antwortete einer auf die Frage, warum Christus gekreuzigt worden sei, „weil er den Apfel gegessen habe“. Da Haenell nicht alleine diesem Defizit beisteuern konnte, schlug er vor, einen Lehrer für die Gefangenen anzustellen, der ihn auch als Vorsänger in den Betstunden unterstützen könne. Nach längeren Bemühungen wurde im Oktober 1862 dem Lehrer Bartels eine Vergütung von 40 Reichsthalern gewährt. Soweit die Gefangenen lesen konnten, gab der Hilfspfarrer Haenell ihnen Texte zum Auswendiglernen und Studieren vor, damit sie die Zeit in den „Cojen“ sinnvoll verbringen konnten. Etliche nahmen diese Anregung auch dankbar an. Andere spielten in überzogener Weise Demut vor, indem sie laut seufzten und beteten, so dass die Wärter auf sie aufmerksam wurden. Unter dem Deckmantel der Reue begingen sie erneut „Schlechtigkeiten“ und wurden von Haenell „entsetzlicher Lügen“ überführt. Worum es sich genau handelte, berichtet er leider nicht, aber seine Enttäuschung war groß. Während der ein bis zwei Jahre, in denen Hilfspfarrer Haenell damals schon im Gefängnis Andachten veranstaltete und die Häftlinge betreute, hatte er immerhin erkannt, dass die abgebrühten Mehrfach-Verurteilten weitgehend unempfänglich für „geistliche Einwirkung“ waren. Desillusioniert wurde er auch durch den Umstand, dass, falls Gefangene bei ihm um Rat nachsuchten, es oft „weltliche Dinge“ waren, die sie beschäftigten, worauf er nur selten einging.

„Ecclesia“, Kapitell am Portal des Obergerichtsgebäudes.

Der Hilfspfarrer Haenell hielt ein Mal in der Woche eine Betstunde ab, die im Zeugenzimmer des Schwurgerichts stattfand: im Sommer Montag nachmittags um 16 Uhr, im Winter Dienstag morgens um 9 Uhr. Nach seiner Einschätzung herrschte dabei „Aufmerksamkeit und Andacht“, allerdings litten die Bibeln und die Gesangbücher durch die ruppige Behandlung. Außerdem traf er die Häftlinge zwei bis drei Mal während ihres Aufenthaltes zu einer persönlichen „Vermahnung“: einmal bald nach dem Haftantritt, bei Untersuchungsgefangenen direkt vor der Urteilsverkündung und dann vor ihrer Entlassung. In einem „Monatsbuch“ (das er später an die Staatsanwaltschaft aushändigen musste) notierte er sich, was er bei den Treffen mit jedem Häftling besprochen hatte. Er wollte ihnen zu Beginn verdeutlichen, dass die Zeit im Gefängnis die Möglichkeit zur Reue und Buße vor Gott bietet, und sie am Ende davor warnen, rückfällig zu werden. Die Untersuchungshäftlinge ermahnte er zur Wahrhaftigkeit vor dem Richter, den er als Stellvertreter Gottes betrachtete. Hier wird deutlich, dass Haenell eine obrigkeitliche Theologie predigte, der aus Sicht der Zielgruppe etwas theoretisches anhaften musste. Ihm waren allerdings auch durch den gesetzlichen Rahmen sehr enge Grenzen im Umgang mit den Gefangenen gesteckt. Er war jederzeit auf die enge Kooperation mit der Gefängnisleitung und der Staatsanwaltschaft angewiesen, deren Bereitwilligkeit er zwar unterstrich, aber natürlich auch nicht aufs Spiel setzen wollte. So gab es Kritik an seiner Auswahl an „Erbauungsbüchern“, weil der Staatsanwalt der Ansicht war, dass „größere Predigten, oder Missionsbücher für äußere Mission“ im Gefängnis nicht am „rechten Orte“ seien, „weil die Gefangenen derartige größere Werke schwerlich lesen, und noch weniger verstehen würden“. Zudem ließ sich Haenell vom Gefängnisdirektor auch hinsichtlich seines Umgangs mit den Gefangenen beraten, denn dieser besaß schon eine längere „Berufserfahrung“. Für die Häftlinge bot die Gefängnisseelsorge sicher auch eine willkommene Abwechslung im eintönigen Gefängnis-Alltag. Eine Stunde lang konnten sie ihre Zelle verlassen; der gemeinsame Gesang, so ungewohnt er den meisten auch war, wird sich positiv auf die Stimmung ausgewirkt haben. In den individuellen Gesprächen mit dem Pastor erlebten sie, dass sich jemand ihnen zuwendete, nach ihrem Befinden fragte und sich sogar bemühte, ihnen Unterricht und eine geistige Anregung für die übrigen Tage zu vermitteln. Je nachdem, welche Bibelpassagen Hilfspfarrer Haenell für seine Betstunde auswählte – meist handelte es sich um Texte, die am Sonntag zuvor beim offiziellen Gottesdienst behandelt worden waren – bzw. wie er sie interpretierte, zogen etliche sicher innere Kraft und eine religiöse Erkenntnis daraus.

Titelseite des „Zweiten Berichts über der Wirksamkeit des Vereins für entlassene Sträflinge in der Stadt Göttingen“, 1846/47, Quelle: Kirchenkreisarchiv Göttingen, Stadtsup., A 364 (Gefährdetenfürsorge).

Der „Verein für Gefangenenfürsorge in Göttingen“

Heute erscheinen uns viele Intentionen und Zielvorstellungen der damaligen Gefängnisseelsorge realitätsfern, berücksichtigt man die soziale Not und die raue Wirklichkeit, mit denen die Insassen des Gefängnisses, die meist aus armen Verhältnissen stammten, nach dem Ende ihrer Haft konfrontiert waren. Schon im Dezember 1844 war deshalb ein Verein gegründet worden, der sich um die Wiedereingliederung von Häftlingen aus Göttingen nach ihrer Freilassung bemühte (KKA, Stadtsup. A 354). Er hatte schon bald etwa hundert Mitglieder und kümmerte sich im ersten Jahr um 15 Häftlinge (elf Männer und vier Frauen) aus „Ketten-Strafanstalten, Zuchthäusern und criminellen Arbeitshäusern“, bis 1847 dann um insgesamt 34 Personen. Zum Vergleich: 1857 waren im Gefängnis in Göttingen 1587 Personen inhaftiert, 1856 sogar 1922, davon allerdings die Mehrzahl nur sehr kurz, und außerdem sind bei diesen Zahlen auch „Vagabunden“ mit eingerechnet, die „auf dem Transport“ im Gefängnis untergebracht wurden. Die Zahl der Untersuchungshäftlinge belief sich 1856 auf 233 Personen, 1857 auf 155 Individuen. Die Werte lassen sich zwar schlecht vergleichen, da nur ein geringer Teil der Häftlinge aus der Stadt Göttingen selbst kam, und umgekehrt vom Verein viele Häftlinge aus anderen Haftanstalten betreut wurden; zudem haben sich nur zwei Jahresberichte erhalten. Dennoch lassen sie die große Aufgabe erahnen, die sich die Mitglieder gestellt hatten. Die Versammlungen des Vereins fanden im Saal des Waisenhauses statt, was sein Wirken im Kontext der frühen Sozialfürsorge verdeutlicht. Als Präsident stand dem Verein der Stadtsuperintendent Rettig vor; Vizepräsident war Pastor Carl Heinrich Miede von der Marienkirche, der auch das Armen-Werkhaus und das Siechenhaus leitete (vgl. Hammann 2002, S. 567, 571). Als Schatzmeister wirkte der Bankier Benfey. Die „Pfleglinge“ wurden jeweils von dem zuständigen Pastor und einem weltlichen „Pfleger“ betreut, und zwar je nach Konfession durch unterschiedliche Mitglieder des Vereins. Der „Oeconom“ (Landwirt) Albert Quentin aus der Groner Tor-Straße war für ehemalige Häftlinge in der Mariengemeinde zuständig.

Pastor Carl Heinrich Miede (1788-1851). Bild in der Sakristei der Marienkirche.

Die Häftlinge, die vom Verein im ersten Jahr betreut wurden, hatten in Hameln, Peine und Celle, also in auswärtigen Gefängnissen eingesessen. Fünf der Häftlinge wurden entweder von Verwandten betreut, wurden gleich wieder straffällig, oder sämtliche Versuche zur „Besserung“ scheiterten, weshalb sie im Bericht als „sittlich verdorbenes Subject“ und hilfloser Fall gewertet wurden. Drei jugendlichen Häftlingen wurde die Ausreise nach Holland oder Amerika finanziert, wo sie sich „zu besseren Menschen bilden sollten“ oder zum Militär gingen; einer von ihnen kehrte zurück und wurde wieder straffällig. Den verbliebenen sieben ehemaligen Häftlingen organisierte der Verein Arbeit und gab ihnen „die nöthige Anleitung zu einem bessern Leben“, um die „gefallenen Brüder“ auf die „verlassene Bahn des Heiles“ zurückzubringen. Die einstigen Häftlinge wurden für ihre bereitwillige Mitarbeit gelobt, aber auch betont, dass es von Vorteil war, dass sich der Verein sofort um ihre elementaren Bedürfnisse kümmerte, weshalb sie nicht wieder gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt durch Diebstahl zu bestreiten. Die Ausgaben hierfür waren im ersten Jahr mit 26 Thalern, 4 Gutengroschen und 4 Pfennigen trotzdem nur doppelt so hoch wie die Kosten für den Druck des Jahresberichtes und andere Formalia, die 13 Thaler und 18 Gutegroschen kosteten; für die Auswanderung nach Amerika wurden 40 Thaler und 4 Gutegroschen verausgabt). Dem Bericht der Jahre 1846 und 1847 ist zu entnehmen, dass einige ehemalige Häftlinge im „Armen-Arbeitshaus“ in der Angerstraße 2 tätig waren, das von 1818 bis 1911 bestand. Es wurde zeitweise von Pastor Miede geleitet. Andere waren trotz einer mittlerweile aufgenommenen Tätigkeit weiter auf die Unterstützung durch den Verein angewiesen. Mehrere ehemalige Häftlinge hatten sich gar nicht mehr gemeldet oder der Hilfe des Vereins entzogen, wo man sich durchaus der Schwierigkeit bewusst war, „eingerostete böse Gewohnheiten und Leidenschaften zu ändern und zu bessern“, und sich freute, wenn „auch nur eine Seele vom Verderben“ errettet werden konnte.

Aus den 1870er Jahren sind einige Informationsbögen zu weiblichen Insassen des Zuchthauses in Lingen erhalten geblieben, die aus Göttingen stammten. Sie geben Einblick in ihre traurigen Schicksale. So wird Friederike Caroline Elisabeth D., die drei Jahre wegen Meineid im Zuchthaus eingesessen hatte, mit 67 Jahren als „alt und schwächlich“ beschrieben. Sie war auf einem Auge blind und daher auf Unterstützung angewiesen. Sie lebte von ihrem Ehemann getrennt und besaß schon ein längeres Strafregister (meist wegen Diebstahl). Sie hoffte, sich mit Spinnerei über Wasser halten zu können, was angesichts der zunehmenden Mechanisierung allenfalls in einem Armen-Werkhaus eine „sinnvolle“ Beschäftigung sein konnte. Im Zuchthaus galt sie als uneinsichtige Querulantin, benötigte in Göttingen aber ein Obdach und wendete sich deshalb an den Verein. Die Witwe Elise N., die kaum weniger auf dem Kerbholz hatte, beschäftigte sich während ihrer Zeit im Zuchthaus mit „Geldbörsensticken“. Die 18-jährige Lisette B., die 6 Monate wegen Betrug und Diebstahl eingesessen hatte, beabsichtigte, sich nach der Rückkehr aus der Haft zunächst mit „Bürsten einziehen“ zu ernähren und dann einen Dienst zu finden. Ihre Mutter hatte neun Kinder, und der Vater war weggelaufen. Rosine Sophie M. war wegen Widerstand gegen den Gerichtsvogt, falscher Anschuldigung und Beleidigung zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt worden und wurde als eine „heftige, zu Gewaltthätigkeit geneigte Person bezeichnet“. Sie betrachtete sich jedoch als Opfer der Justiz, habe zwischenzeitlich fast den Glauben aufgegeben und bitte nun Tag und Nacht um Vergebung. Sie habe schwache Nerven und galt zeitweise als „geistesgestört“. Die Dokumente verdeutlichen, mit welchen Schicksalen die engagierten Mitglieder des Gefangenen-Hilfsvereins konfrontiert wurden. Die „Pfleger“, die sich persönlich um sie kümmerten, benötigten viel Geduld, Menschenkenntnis und eine gute Hand bei der Wiedereingliederung in die städtische Gesellschaft. Es wird sich jedesmal herumgesprochen haben, wer da aus Lingen zurückkam, denn in der kleinen Stadt an der Leine, die damals noch nicht über den Wall hinausgewachsen war, kannte (fast) jeder jeden. Der raue Ton im Umgang miteinander wird an den Anekdoten deutlich, die um die Altwarenhändlerin Biene Gassmann überliefert sind.

Die Notlage im ersten Weltkrieg und die Inflation ließen die Arbeit des Vereins zum Erliegen kommen, weshalb er danach noch einmal neu begründet wurde. Mit der Sozialgesetzgebung war Ende des 19. Jahrhunderts zugleich der Grundstein zu einer staatlichen Fürsorge für die ehemaligen Häftlinge gelegt worden. Das „soziale Netz“, das hierdurch gespannt wurde, war freilich anfangs noch sehr lückenhaft, die finanzielle und praktische Hilfeleistung unzureichend. Seit 1925 führt das „Schwarze Kreuz e.V.“ die Arbeit der Gefangenenhilfe ehrenamtlich fort. Jährlich werden z.B. zu Weihnachten Pakete für die Häftlinge gepackt, Brieffreundschaften angeregt oder Inhaftierte besucht.

Sophie Kunert-Benfey, die erste weibliche Gefängnisseelsorgerin

Die Mariengemeinde blieb im 20. Jahrhundert ein sozialer Brennpunkt, weshalb sich auch Pastor Bruno Benfey, der seit 1927 die 2. Pastorenstelle in der Nachfolge des Hilfspfarrers Haenell versah, schwerpunktmäßig mit der Seelsorge von Arbeitern, armen Handwerkern, Kleingewerbetreibenden und anderen Angehörigen der Unterschichten konfrontiert war. Die Gefangenenseelsorge verrichtete er nebenamtlich. Das Gefängnis am Waageplatz befand sich mittlerweile im Gemeindebezirk der Marienkirche (im 19. Jahrhundert gehörte es noch zur Jacobikirche). Seine zweite Frau, Sophie Kunert-Benfey, die er am 2. Januar 1934 heiratete, hatte ebenfalls praktische Erfahrungen in der Gefängnisseelsorge, denn sie war als erste eingesegnete, examinierte Theologin im Frauengefängnis in Hamburg-Fuhlsbüttel angestellt gewesen, und hatte dort eine Dissertation zur Straffälligkeit von Frauen verfasst. Möglicherweise blieben die Charakterbögen für die Häftlinge aus Lingen deshalb in der Göttinger Akte zur Gefängnisseelsorge erhalten, weil sie damals aufgehoben wurden, während andere Unterlagen des Gefangenen-Hilfs-Vereins vernichtet wurden. Dies würde erklären, weshalb nur noch die Bögen von Frauen existieren: Sie standen im Fokus der Arbeit von Sophie Kunert-Benfey (die ihren Dienst aber schon vor der Heirat wegen Streitigkeiten und dem allgemeinen Berufsverbot für beamtete Frauen quittiert hatte). Ihre Dissertation wurde von dem Psychologen William Stern betreut, der Ende Oktober 1933 als „Nichtarier“ entlassen wurde. Sein Institut wurde zunächst noch von seiner Mitarbeiterin Martha Muchow geleitet, die aber als „marxistisch eingestellte Demokratin“ denunziert und ebenfalls ihre Tätigkeit aufgeben musste. Sie nahm sich daraufhin das Leben. William Stern, der die Formel für den Intelligenzquotienten erfand, emigrierte in die USA, starb aber schon 1938 (vgl. zu ihren Biographien https://zumfeindgemacht.de/fall/martha-muchow/). Er vertrat den „Personalismus“ als psychologische Theorie, bei der „Person“ und „Welt“ als zwei Faktoren betrachtet wurden, die in ihrem Zusammentreffen die Bedingungen einer Situation bestimmen. Sophie Kunert-Benfey sah in den Gefangenen nicht Verbrecher, sondern arme Menschen, die selbst Mitleid verdient hatten. Nicht antisoziale Energie, die diesen Menschen innewohnte, sondern Unselbständigkeit, Verlusterfahrungen und Enttäuschungen betrachtete sie als Ursache für die Straffälligkeit. Unter „ihren“ Verbrecherinnen fand sie vor allem „abhängige Menschen“, die sich nicht selbst verwirklichen konnten, sondern sich beschränkten und „einklammerten“ (Kunert-Benfey 1933, S. 3). Sie waren „verbogen“, und der Faktor Welt stand ihnen „übermächtig“ gegenüber, so dass ihre personale Struktur in Gefahr geriet, „aufgelockert“ zu werden, ohne unbedingt pathologisch zu sein. Die Tendenz, sich in Abhängigkeiten zu begeben (gelegentlich sogar freiwillig), führte bei einigen zur Bindung an sektiererische Gruppen und einer unduldsamen Haltung, während andere in fatalistischer Weise zu magischen und okkulten Handlungen neigten (Kunert-Benfey 1933, S. 169-171).

Die Berichte zu Sophie Kunerts Examenspredigt in Fuhlsbüttel sind aufschlussreich zur Wirkung der seelsorgerischen Tätigkeit auf die Gefangenen, auch wenn es sich ausschließlich um weibliche Gefangene handelte, und dem Pastor in Göttingen vermutlich in der Mehrzahl männliche Insassen in der Betstunde lauschten. Der Hamburger Pfarrer Wilhelm Theodor Lüder schildert die „von innerer Ergriffenheit zeugende lautlose Stille der Gefangenen“, während sie Sophie Kunerts lauschten (zitiert nach Hering 1997, S. 25). Eine Beamtin des Gefängnisses, Aloysia Marie Helene Batsche, war beeindruckt von ihren einfachen, aber warmen, klaren und aufmunternden Worte voll demütiger Frömmigkeit. „gebannt und überwältigt“ seien alle gewesen, als sie ihre Pflegebefohlenen „das rechte Beten lehrte“. Die Gesichter der „sonst so unruhigen Frauen“ waren gefesselt, und selbst diejenigen, die lange nicht gebetet hatten, falteten die Hände. Dennoch erhielt Sophie Kunert erst nach längerem Kampf das Recht, auch das Abendmahl auszuteilen. Sie verstand den Gottesdienst als Erziehungsarbeit, denn kriminelles Verhalten resultierte ihrer Ansicht nach aus der Entfremdung von der Kirche und damit dem Verlust sittlicher Maßstäbe (so Hering 1997, S. 39). Doch selbst ihr fiel es oft schwer, die Herzen der misstrauischen Frauen zu gewinnen, die oft schwere Erlebnisse hinter sich hatten, um sie zu Gott zurückzuführen, zu trösten und zu stärken. Dabei maß sie dem Singen eine wichtige Rolle bei, denn heilige, sakrale Musik könne mehr wie das Wort „dem geöffneten und gewohnten Ohr die sendende Wellenübertragung in ein Reich nicht von dieser Welt ermöglichen“ (Zitat nach Hering 1997, S. 42). Zugleich aber versuchte sie, durch „psychotechnische Übungen“ die „beeinträchtigte Mentalität“ von Langzeitgefangenen positiv zu beeinflussen (Hering 1997, S. 44). Ihrer Beobachtung nach gerieten sie durch die Einsamkeit und Erlebnisleere in der Anstalt häufig in Zustände des mechanischen Grübelns, die sie nicht von sich aus überwinden konnten (Kunert-Benfey 1933, S. 9f.). Bei diesem, oft reflexierenden Nachdenken beschäftigten sie „letzte Lebensfragen“ wie Schicksal und Schuld, Gerechtigkeit und Nächstenliebe, schließlich ein Leben nach dem Tod, ein mögliches „letztes Gericht“ und Gott. Die psychologische Übung bestand darin, dass die Person zu einem vorgegebenen Wort oder einem Text Assoziationen äußeren sollte. Hierdurch wird eine Selbstbeurteilung provoziert, die z.T. eine regelrechte „seelische Erschütterung“ herbeiführte. Dagegen stand Sophie Kunert der zwangsweisen Einführung der anthroposophischen Eurythmie, die die Hamburger Anstaltsleiterin Elisabeth Ellering durchsetzte, kritisch gegenüber (Hering 1997, S. 48).

An den Beispielen zeigt sich, dass die Gefangenenseelsorge und die Fürsorge für die Häftlinge in der Oberen Masch, aber auch aus weit entfernten Zuchtanstalten eine wichtige Rolle im karitativen Leben der Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert spielte. Heute sind die Häftlinge hingegen in der JVA Rosdorf weitgehend den Blicken der Stadtbewohner entzogen, und es gibt kaum noch Kontaktmöglichkeiten. Die Reintegration ehemaliger Gefängnisinsassen in die Gesellschaft ist Aufgabe staatlicher Institutionen.

Thomas Küntzel

Archivalien und Literatur:

Kirchenkreisarchiv Göttingen, Stadtsuperintendentur, Akte A 341.II: Gefangenenseelsorge, Seelsorge 1817-1924).

Kirchenkreisarchiv Göttingen, Stadtsuperintendentur, Akte A 364: Gefährdetenfürsorge.

Peter Brandt, Die evangelische Gefangenenseelsorge. Geschichte – Theorie – Praxis (Göttingen 1985).

Konrad Hammann, Geschichte der evangelischen Kirche in Göttingen (ca. 1650-1866). In: Ernst Böhme/ Dietrich Denecke (Hg.), Geschichte der Stadt Göttingen, Band 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen. Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648-1866)(Göttingen 2002), S. 525-586.

Rainer Hering, Die Theologinnen Sophie Kunert, Margarete Braun, Margarete Schuster. Hamburgische Lebensbilder 12 (Hamburg 1997).

Sophie Kunert(-Benfey), Straffälligkeit bei Frauen: ihre Entstehung und Beschaffenheit (Diss. Leipzig 1933; Hamburger Untersuchungen zur Jugend- und Sozialpsychologie 5).

Fee Lautenschläger, Das Armen-Arbeitshaus. Auf: Göttingen.Sozial. Eine Topografie zur Göttinger Sozialgeschichte vom 18 bis ins frühe 20. Jahrhundert, online: https://goettingensozial.wordpress.com/2013/01/16/das-armen-arbeitshaus/

Philipp Meyer, Die Pastoren der Landeskirche Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation (Göttingen 1953).

Jürgen Schallmann, Arme und Armut in Göttingen 1860-1914. Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 25 (Göttingen 2014).

Jürgen Schlumbohm, Verbotene Liebe, verborgene Kinder. Das Geheime Buch des Göttinger Geburtshospitals 1794-1857 (Göttingen 2018).

Kerstin Söderblom, Sophie Kunert-Benfey. In: Traudel Weber-Reich, „Des Kennenlernens werth“. Bedeutende Frauen Göttingens (1993), S. 276-288.

Kerstin Söderblom, 500 Jahre Reformation – von Frauen gestaltet. Sophie Benfey-Kunert. Dreifacher Einsatz, online: http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=35

Hans Wiesenfeld, Aus der Geschichte der Mariengemeinde 1930-1970 (Teil 1). Gemeindebrief St. Marien 15, Heft 1, Januar/Februar 1978, S. 15-16.

Sophie Benfey-Kunert ist als Nr. 22465 in der „Holocaust survivors and victums database“ des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) eingetragen: Benfey, Sophie geb. Kunert

Schwarzes Kreuz. Christliche Straffälligenhilfe e.V.: https://naechstenliebe-befreit.de/informieren/unser-thema/

 

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