am 25.11.2023
Zu der Exkursion der Geschichts-AG sind neun Nachbar*innen mitgekommen.
Durch den Ort führte uns Annegrit Berghof von der „Lagergemeinschaft und Gedenkstätte KZ Moringen e.V.“. Bei kaltem Wind näherten wir uns in mehreren Etappen dem Baukomplex. Zunächst bot Annegrit beim Torhaus, dem Sitz der Gedenkstätte, eine allgemeine Einführung. Weitere Stationen befanden sich an der Ecke zur „Waisenmauer“, wo sich ehemals das Barackenlager befand, und bei der Anstaltskapelle. Im Vorraum der ehemaligen Kommanadantur, der heutigen Pflegeschule, befindet sich jetzt der Gedenkraum. An den Seiten lassen sich unter langen Tischplatten Schubladen mit Infotexten öffnen. Im Treppenhaus steht im ersten Stock ein großes Modell des Lagers im Maßstab 1:160 und das Modell einer Baracke, das die gedrängte Situation mit den vielen Mehretagenbetten und den eng bestuhlten Esstischen im äußeren Barackenlager illustriert. Aus einem Saal kann man dann in den Hof des Gebäudekomplexes blicken, der nicht öffentlich zugänglich ist. Das KZ bestand aus der „Kommandantur“ im ehemaligen Waisenhaus – einem großen, mehrstöckigen, barocken Steingebäude mit Außentreppe an der Fassade und einem Prunkportal – , sowie zwei hofseitigen Flügelbauten: Dem „Zellenbau“ im Norden, einem zweistöckigen Backsteinbau aus dem späten 19. Jahrhundert, in dem die Männer untergebracht waren, und einem niedrigeren Gebäudekomplex im Süden, der die Wäscherei, Heizung und Werkstatt enthielt. An den „Zellenbau“ schloss sich nach Osten das etwas niedrigere „Frauenhaus“ an. Nördlich erstreckte sich das Barackenlager, das separat mit Stacheldraht und einem Hundzwinger umgeben war und von Wachtürmen aus kontrolliert wurde.
Es gab in Moringen nacheinander drei unterschiedliche Konzentrationslager, die die Entwicklung dieser Institution illustrieren: seit dem 11. April 1933 ein allgemeines KZ für Männer, ab Oktober/November ein Frauen-KZ und ab 1940 bis 1945 ein Jugend-KZ. Nach dem Krieg waren in Moringen Displaced Persons (DP) untergebracht, etwa ehemalige KZ-Häftlinge aus den befreiten Lagern in Osteuropa. Lange Zeit kam es nicht zu einer Aufarbeitung der NS-Verbrechen, weil viele Einwohner stark in die Arbeit des KZ involviert waren. Erst in den 1980er Jahren begann der Pfarrer der Stadt, nachdem er im Kirchenbuch die Eintragungen von Bestattungen auf dem Friedhof entdeckt hatte, die Aufarbeitung einzufordern. 1989 schenkte die Stadt das östliche Torhaus im Norden der Stadt der Gedenkstätten-Initiative. 1993 wurde dort die Gedenkstätte eingerichtet. Die ehemaligen Inhaftierten wurden in der Stadt noch lange als „Kriminelle“ stigmatisiert, der Gedenkstein auf dem Friedhof abwertend als „Kommunistenstein“ bezeichnet. Mittlerweile ist die Gedenkarbeit aber fest etabliert. Leider kommt es immer noch zu faschistischen Schmierereien, zuletzt im August 2023. Die Insassen des Maßregelvollzugs, der heute in den Gebäuden untergebracht ist, wissen meist über die Vergangenheit der Anlage Bescheid. So wird beispielsweise regelmäßig ein Theaterstück zum Jugend-KZ aufgeführt.
Die Geschichte des KZ Moringen begann im April 1933, nachdem infolge des Reichstagsbrandes am 28. Februar 1933 ca. 80.000 Oppositionelle inhaftiert worden waren. Dabei handelte es sich meist um Männer aus Südniedersachsen, die der SPD, den Kommunisten und der Gewerkschaft angehört hatten. Anfangs führte die örtliche Polizei die Aufsicht, aber nach einem Hungerstreik übernahm im August 1933 die SS das Kommando. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Behandlung ruppiger, und es kam häufig zu Misshandlungen. Die Insassen wurden ab Oktober in andere KZ abtransportiert.
Ab Oktober/November 1933 wurden speziell Frauen in Moringen interniert, wobei es sich zunächst um politische Häftlinge handelte (zu den den ersten zählte die Kommunistin Hannah Vogt, die aus Osterode nach Moringen verlegt wurde). Nunmehr befanden sich in Moringen Frauen aus dem gesamten Reichsgebiet in Haft. Zeitweise wurden 90% der Häftlinge von Zeuginnen Jehovas gestellt. Durch das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei“ vom 20.12.1934 wurde die Gruppe der Inhaftierten sehr viel „bunter“, da nun einfache Denunziationen ausreichten, um eingesperrt zu werden; zudem gab es Remigrantinnen, also zurückgekehrte Jüdinnen, die erneut abgeschoben oder deportiert werden sollten, Arbeitsverweigerinnen (die z.B. nicht das faschistische Winterhilfswerk oder den Luftschutz unterstützen wollten), Lesben und „Rassenschänderinnen“, also Frauen, die einen Juden geheiratet hatten. Ansonsten wurden jüdische Menschen nicht primär ihres Glaubens bzw. ihrer Herkunft wegen in Moringen eingesperrt.
Die Frauen wurden im hinteren nördlichen Trakt festgehalten und besaßen einen eigenen Hof für den Freigang. Im Erdgeschoss des Gebäudes war die Verwaltung untergebracht, im ersten und zweiten Obergeschoss diente je ein Saal als Aufenthaltsraum während des Tages, und unter dem Dach befand sich der Schlafsaal. Dort gab es nur einen Toilettenkübel, und der Saal war nicht beheizt. Das Dach war löcherig, weshalb es im Winter hineinschneite. Im Tagesraum gab es nur Stühle ohne Lehne, weshalb sich die Gefangenen mit den Rücken aneinander setzen mussten. Es gab kaum Möglichkeiten zur Beschäftigung, außer „frau“ organisierte sich eine Handarbeit (lediglich im Sommer und Herbst wurden die Frauen gelegentlich zur Feldarbeit nach draußen geschickt). Gespräche waren verboten, während im Schlafsaal geredet werden durfte. Daher fand hier das soziale Leben statt. Die Frauen entwickelten eine starke Solidarität untereinander; sie bildeten „Familien“, die sich besonders eng umeinander kümmerten. Es war erlaubt, von außen Nahrungsmittel zu empfangen, was aufgrund der kargen Ernährung im KZ eine wichtige Unterstützung darstellte. Auch Briefe konnten gesendet und empfangen werden. Die Briefe von Hannah Vogt wurden als Buch publiziert. Kam eine Todesnachricht, etwa vom Mann einer Insassin, trauerten alle gemeinsam, wie für den Kommunisten Hans Beimler. 1938 wurden die Frauen auf andere KZ verteilt, besonders Lichtenburg bei Prettin und Ravensbrück.
Die dritte Phase des KZ Moringen begann 1940 mit der Einrichtung des „Jugendschutzlagers“, das bis 1945 bestand. Nun wurden „schwer erziehbare“ Jugendliche in Moringen inhaftiert, die aus Heimen in ganz Europa stammten. Durch den „Kriminalbiologen“ Robert Ritter, der in Berlin am Werderschen Markt 5-6 seinen Sitz hatte, wurden die Jugendlichen in mehrere Gruppen eingeteilt: „Störer“, „Gelegenheits-Versager“, „Dauer-Versager“, „Erziehungsfähige“, „fraglich Erziehungsfähige“ und „Stapo-Personen“, also politische Häftlinge (Widerständler, Swing-Jugend u.a.). Diese Gruppen waren in dem nun errichteten Barackenlager untergebracht. Die Zuweisung zu einer der Gruppen entschied über die individuelle Behandlung: Die Häftlinge in den „Versager-Blöcken“ wurden besonders stark misshandelt, und sie wurden zu schwerer körperlicher Zwangsarbeit eingesetzt, etwa beim Autobahnbau, in der Heeresmunitionsanstalt Volpriehausen oder im Piller-Werk in Moringen. Formen der Misshandlung bestanden z.B. in stundenlangem Stehen auf dem Appellhof oder Auspeitschen vor den anderen Mithäftlingen. Die SS betrieb zudem eine Folterkammer im „Lazarett“. Eine Entlassung kam nur bei den „Erziehungsfähigen“ gelegentlich vor; die anderen wurden allenfalls in andere KZ überwiesen.
Grundlage der von Robert Ritter betriebenen „Kriminalbiologie“ war die Annahme, dass die Neigung zum Begehen von Verbrechen vererbt werde, ja sogar, dass man sie den Menschen „am Gesicht ablesen“ könne. Deshalb wurden Schädel und Körper vermessen, um die Physiognomien von Verbrechern schon frühzeitig „erkennen“ zu können. Beispielsweise galten enge Augenbrauen als Erkennungsmerkmal. Zudem wurde die Herkunft von Straftätern untersucht, um „minderwertige Sippschaften“ zu ermitteln, aus denen besonders wahrscheinlich Kriminelle hervorzugehen schienen. Von diesem Ansatz aus war es nur ein kleiner Schritt, die Sterilisation der so ermittelten „geborenen Verbrecher“ zu fordern und auch zu realisieren. Dies wurde z.B. an der Universitätsklinik Göttingen durchgeführt (bekannt sind mindestens 22 Fälle). Ein besonderes Interesse hatte Robert Ritter an der Untersuchung von „Zigeunern“.
Das Besondere am KZ Moringen war nicht nur die Lage im Zentrum der Stadt, sondern auch die enge Verflechtung in personeller Hinsicht: Viele Einwohner arbeiteten in der Anstalt. Das Barackenlager der dritten KZ-Phase war von außen gut einsehbar, während der alte Baukomplex eher in sich abgeschlossen war. In dieser Phase zogen die ausgemergelten Jugendlichen täglich zum Arbeitseinsatz durch die Hauptstraße der Stadt. Damals war die Haftanstalt längst in der Stadt etabliert: das Waisenhaus, das 1732-39 eingerichtet worden war, bestand nur bis 1818. Danach wurden in dem Gebäude Polizeihäftlinge untergebracht. Ab 1871 gab es in den nunmehr stark erweiterten Gebäuden ein „Werkhaus“ nach englischem Muster, in welchem „arbeitsscheue“ und „asoziale“ Personen, Obdachlose und Prostituierte durch einen straffen Tagesablauf und praktische Tätigkeiten (wie Korbflechten) zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft umerzogen werden sollten. Bereits diese Einrichtung war eine „totale Institution“, deren Insassen meist eingewiesen wurden und nicht wussten, wann sie wieder freikamen. Sie trugen eine schwarze Anstaltskleidung, die sie noch in den 30er/40er Jahren von den KZ-Häftlingen unterschied. Die KZ-Insassen distanzierten sich abschätzig von den „Werkhäuslern“ und wollten nichts mit ihnen zu tun haben, handelte es sich bei den Häftlingen doch oft um Arbeiter oder Intellektuelle mit hohem Arbeitsethos. Für die Gottesdienste, an denen die Insassen des Werkhauses zwangsweise teilnehmen mussten, wurde 1880 eine Kapelle aus Sandsteinquadern errichtet.
Nach der Führung in Moringen fuhren alle gemeinsam nach Fredelsloh, um sich im Café Klett aufzuwärmen und sich mit Suppe, Kuchen und Eis zu stärken. Hannes Klett, der zu den Gründungsmitgliedern der Gedenkstätten-Initiative gehört und u.a. das Torhaus mit ausgebaut hat, war leider nicht im Haus. Große Achtung vor seinem Engagement!
Thomas Küntzel
Literatur
Auftakt des Terrors. Frühe Konzentrationslager im Nationalsozialismus (Ulm 2023).https://www.gedenkstaettenforum.de/aktivitaeten/auftakt-des-terrors-fruehe-konzentrationslager-im-nationalsozialismus
Hans Hesse (Hg.), Hoffnung ist ein ewiges Begräbnis. Briefe von Dr. Hannah Vogt aus dem gerichtsgefängnis Osterode und dem KZ Moringen 1933 (Bremen 1998).
Jutta von Freyberg, Ursula Krause-Schmitt, Frauen im Konzentrationslager 1933-1945: Moringen, Lichtenburg, Ravensbrück. Lesebuch zur Ausstellung (Frankfurt 1997).
Hans Hesse/ Jens Christian Wagner, Das frühe KZ Moringen (April-November 1933), „ein an sich interessanter psychologischer Versuch“ (Moringen 2003).
„Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“. Eine Ausstellung zu den Jugend-Konzentrationslagern Moringen und Uckermark 1940-1945 (Moringen 1992).
Christian Kämmerer/ Peter Ferdinand Lufen, Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Baudenkmale in Niedersachsen, Band 7.1: Landkreis Northeim. Südlicher Teil mit den Städten Hardegsen, Moringen, Northeim und Uslar, den Flecken Bodenfelde und Nörten-Hardenberg, der Gemeinde Katlenburg-Lindau und dem Gemeindefreien Gebiet Solling (Braunschweig 2002), S. 156. online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/dtbrd_nds_bd7_1/0160/image,info
https://www.gedenkstaette-moringen.de
https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/16/KZ-Gedenkstätte-Moringen
http://www.erinnernsuedniedersachsen.de/orte-h-m-moringen-7.html
Zum Feind gemeacht. Das Jugend-KZ Moringen. Günther Discher. https://zumfeindgemacht.de/orte/jugend-kz-moringen/
Frauen-KZ Moringen. Radio-Übrigens. Die Vergangenheit lehrt uns vieles über die Zukunft, 26.1.2002, Netzversion: 8. Juni 2013, Teil 1: www.radio-uebrigens.de/?p=253, Teil 2, 2. Februar 2001: http://www.radio-uebrigens.de/?p=250