Eingeschüchtert von der modernen Nachbarschaft, trotzt die Stockleffmühle am Leinekanal (noch) dem Zahn der Zeit. Das Nebengebäude wurde schon 1967/68 ein Opfer der Abrissbirne, als das alte Stadtbadehaus von 1903-6 durch einen Neubau ersetzt wurde. Aus der neuen Schwimmhalle konnte man danach durch die Glaswand auf die erhalten gebliebene Mauer zum Leinekanal blicken. 2002 wurde das neue Stadtbad seinerseits abgerissen und an seiner Stelle 2011 der Rudolf-Gernhardt-Platz gebaut, aber die Mühle wartet weiterhin auf den „Märchenprinz“, der sie wachküsst und saniert, etwa für die Nutzung als „Welthaus“. Ein Gutachten des Bauforschers Frank Högg ergab ein überraschend hohes Alter für die Fachwerkkonstruktion: Das mächtige Dach wurde 1595/96 aufgerichtet. 1804 wurde die Tür zur Brücke über den Leinekanal erneuert, von der aus die Wehre bedient und so die Wassermengen reguliert werden konnten. Die Jahreszahl steht zusammen mit zwei Wappen der Stadt Göttingen auf dem mächtigen Türsturz aus Sandstein.
Blickt man vom Waageplatz aus durch die Äste der großen Weide, erhält man einen Eindruck davon, was für eine ungewöhnliche Anlage sich hier befand (Bild unten). Ein Entwurf für den Umbau der Stockleffmühle aus dem Stadtarchiv veranschaulicht die Konstruktion: in zwei Reihen drehten sich fünf bzw. vier Räder hintereinander. Sie betrieben acht Mahlwerke für Getreide und eine Ölmühle. Allerdings wurde der durchgreifende Neubaubauplan nicht realisiert; statt dessen beließ man es bei der historisch gewachsenen, etwas unregelmäßigen Abfolge der Mühlräder. Dies lässt sich daran ablesen, dass die Öffnungen in der Mauer, durch welche die Radachsen führten, nicht alle auf dem gleiche Niveau liegen: Im Süden gibt es fünf höher liegende Öffnungen, während sich im Norden zwei höhere und zwei niedrigere abwechseln. Schaut man genauer hin, bemerkt man, dass die fünf südlichen Öffnungen nachträglich angehoben wurden, indem man einen großen Sandsteinblock einbaute. Der gebogene Sturz wurde in diesem Zusammenhang vermutlich ebenfalls höher gesetzt. Auf alten Fotos aus den 1930er Jahren waren sämtliche Öffnungen zugesetzt, erst später öffnete man sie wieder teilweise. Die Höherlegung der Öffnungen erfolgte vermutlich, weil man größere Räder einbauen wollte, durch die mehr Kraft auf die Achse übertragen wurde. Dem Umbauplan lässt sich dagegen entnehmen, dass die Mühlräder nach Norden zu stückweise größer werden sollten. Demnach sollte der Leinekanal als gleichmäßig abfallende Rampe gestaltet werden. Vielleicht hatte man auch den Raum mit den Mahlwerken angeschüttet, um die empfindliche, hölzerne Mechanik vor den regelmäßigen Überschwemmungen zu schützen.
Derart große Wassermühlen sind sehr selten zu finden. Die Römer errichteten im 2. Jahrhundert bei Barbegal in der Provence nebeneinander zwei Mühlentreppen mit je acht Etagen, so dass ingesamt 16 Räder gleichzeitig liefen. Im Mittelalter und bis in die Neuzeit war es jedoch üblich, nur wenige Mühlräder in Betrieb zu halten, denn ihre Wartung war aufwändig. Wie kam es zu der schon fast gigantomanischen Sonderform in Göttingen? Die Anfänge der Großen Mühle sind eng mit der Gründung der Stadt verbunden. Sie lag in der Nordwestecke der älteren Stadtbefestigung: in der unmittelbaren Nachbarschaft, auf dem Carré-Gelände, begann der Stadtgraben, der zum Museum zog (wo sich noch die Ecke der Stadtmauer erhalten hat), dann zur Mauerstraße und zur Turmstraße weiterführte. Zum Betrieb der Mühle musste der Leinekanal aufgestaut werden, der damit zugleich zu einem Teil der Befestigung der jungen Stadt wurde. Durch den nördlichen Abschnitt des Stadtgrabens beim Museum leitete man den Reinsgraben. Im Bereich des Walles stand außerdem die sogenannte „Weender Mühle“; sie gelangte 1170 durch die Heirat einer freien Frau mit einem Ministerialen (unfreien Dienstmann) des Klosters Helmarshausen in dessen Besitz, zusammen mit einer Mühle in Weende selbst (Wenskus 1987, S. 24f.). Diese Mühle macht nur Sinn, wenn es in der Nähe genug Bedarf zum Mahlen gab, etwa durch die entstehende Stadt. Als Lehen gelangte die Mühle dann an die Edelherren von Plesse (Göbel 1993, S. 20). Die Große Mühle war hingegen ein Lehen der welfischen Herzöge an den Rat, was auf ihre Entstehung im Zusammenhang mit der Stadtgründung hinweist. Neben der Weender- und der Großen Mühle gab es in der Stadt noch die sogenannte Steinmühle, die Grabenmühle und die Stegemühle, außerdem die Odilienmühle und die Kleine Mühle. Letztere haben sich noch beim Bismarckhäuschen erhalten. Die Weender Mühle wurde beim Ausbau der Wallbefestigung Ende des 14. Jahrhunderts verlegt, und um 1491/92 bis 1492/93 mit der Stockeleffmühle zusammengelegt. So entstand die „Große Mühle“ mit ihren acht Mahlgängen und einer Schlagmühle (Göbel 1993, S. 22). Im 16. Jahrhundert wurde zudem noch eine Kupfermühle und kurzzeitig eine Pulvermühle betrieben; die Tuchmacher nutzten die Walkemühle zur Textilverarbeitung.
Die acht Mahlgänge der Großen Mühle waren jedoch nicht immer gleichzeitig in Betrieb. Mitte des 18. Jahrhunderts waren nur vier Mahlgänge benutzbar, weshalb der Pächter um eine Minderung des Pachtbetrages bat. Die Angabe lässt erahnen, dass der Mühlenbetrieb mit vielen Schwierigkeiten verbunden war. Die vielen Einzelteile des Mühlengetriebes erforderten ständige Wartung und Reparaturen; die Lager mussten gefettet werden, und die Mahlsteine waren häufig abgenutzt oder brachen entzwei. Im Winter drohte der Leinekanal einzufrieren (etwa 1729), im Sommer auszutrocknen. Bei Hochwasser musste der Mühlbetrieb eingestellt werden, oder das Wehr und die Räder wurden gar beschädigt. Der Pächter wechselte zudem häufig, denn die Große Mühle wurde vom Rat im 18. Jahrhundert „versteigert“, d.h. unter freien Bewerbern auf Kostenvoranschlag ausgeschrieben (Göbel 1993, S. 74-78). Den Zuschlag erhielt zwar nicht unbedingt derjenige, der die höchste Pacht zu zahlen versprach, aber der Gewinnmarge der Müller waren durch dieses Verfahren enge Grenzen gesetzt. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts reduzierte sich die Fluktuation.
Die Verdienstmöglichkeiten für den Müller waren auch deshalb begrenzt, weil die Kunden misstrauisch darauf bedacht waren, dass so viel als möglich von ihrem Mahlgut nach der Verarbeitung zurück kam. Deshalb schickten sie oft Knechte oder Mägde, die den Mahlprozess verfolgten, was gelegentlich zu Reibereien mit dem Müller (und anderen Kunden) führte, ja selbst Prügeleien sind bezeugt (Göbel 1993, S. 200f.). Dies lag auch an den oft langen Wartezeiten (manchmal mehrere Tage), denn gemahlen wurde der Reihe nach: „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Auf einem Mahlgang wurde also immer jeweils nur das Mahlgut eines Kunden verarbeitet! Dieses Prinzip wird als „Tauschmüllerei“ bezeichnet. Ein „freies“ Mahlen von Getreide, das der Müller zu diesem Zweck erwarb (die sogenannte Handelsmüllerei), kannte man noch nicht. Die große Zahl der Mahlgänge der Großen Mühle konnte die Wartezeiten reduzieren, so dass die Kunden nicht zu den Mühlen im Umland abwanderten, und der Müller kein ausreichendes Verdienst mehr hatte.
Neben dem Mahlen von Mehl wurde auch Hafer zu Grütze geschrotet, Gerste zu Graupen zerkleinert und geröstetes Malz gemahlen, um zu Bier verarbeitet zu werden. Die Mahlsteine mussten dann je nach Feinheit des Mahlgutes angehoben oder abgesenkt werden, was viel Fingerspitzengefühl erforderte. Zudem spielte der Feuchtigkeitsgrad des Getreides für das Gelingen des Mahlvorganges eine wichtige Rolle: war es zu trocken, musste das Getreide mit Wasser versetzt und über Nacht liegen gelassen werden. Damit es feiner wurde, wurde das Mehl häufig mehrfach gemahlen – bis zu neun Mal (Göbel 1993, S. 121f.).
Starb ein Müller, war seine Witwe gezwungen, die Mühle allein weiter zu betreiben, wenn der Rat es zuließ. So bat die Ehefrau des Müllers Hesse 1773 um eine Verlängerung des Vertrages für die Maschmühle, nachdem ihr Mann verstorben war (Göbel 1993, S. 216f.). Da sie elf Kinder besaß und schwanger war, stimmte der Rat zu, nachdem er sich den Segen der Regierung in Hannover eingeholt hatte, zumal sich die Müllerin um einen tüchtigen Müllerknecht bemühte. Margarethe Elisabeth Hesse führte die Mühle sogar bis 1805 weiter, wobei sie ab 1793 durch ihren Sohn unterstützt wurde. Die Große Mühle wurde in ähnlicher Weise 1761-67 durch die Witwe des Müllers Johann Christoph Hartwig betrieben, danach von ihrem Sohn.
1882 wurde der Mühlenbetrieb in der Stockleffmühle eingestellt. Statt dessen wurde in dem Gebäude nun Mineralwasser abgefüllt (Bild unten). Die Mühlräder waren schon um 1900 abgebaut, aber die Brücke, über die einst die Wehre bedient worden waren, ist noch auf einer alten Postkarte zu erkennen (Bild oben). Schließlich ersetzte man sie aber durch eine hölzerne Fußgängerbrücke, die vom Waageplatz zur Mühlenstraße führte. Die Brücke ist mittlerweile baufällig und wartet nun wie das Mühlengebäude auf eine Erneuerung…
Thomas Küntzel
Ilka Göbel, Die Mühle in der Stadt. Müllerhandwerk in Göttingen, Hameln und Hildesheim vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung 31 (Bielefeld 1993).
Reinhard Wenskus, Frühe Besitz- und Herrschaftsverhältnisse im Göttinger Raum. In: Dietrich Denecke/ Helga-Maria Kühn (Hg), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Band 1: Von den Anfängen bis zum Dreißigjährigen Krieg (Göttingen 1987), S. 12-30.
Initiative zur Nutzung der Stockleffmühle als „Welthaus“: https://welthaus-goettingen.de/ (15.8.2023).
Kritischer Bericht zur Neugestaltung des Quartiers am Leinebogen (Stadtbad-Grundstück): https://www.goest.de/stadtbad.htm (14.8.2023).
Städtische Wohnungsbau Göttingen GmbH, Machbarkeitsstudie: Zukunftskonzepte für die Große Mühle in Göttingen, online: https://www.swb-goettingen.de/deutsch/unternehmen/muehle.html (14.8.2023).
„Segnungen der Wasseranwendung“. Entdeckungsreise in die Geschichte: Göttingens „vorzüglich heilkräftige“ Hallenbäder. Entdeckungen, S. 22-23, online: https://www.goesf.de/fileadmin/freizeitarena/freizeitarena27/pdf/22-23.pdf (14.8.2023).
Die Mühlen von Barbegal, auf: https://www.evolution-mensch.de/Anthropologie/Mühlen_von_Barbegal (14.8.2023).
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