Die Planungen zur Modernisierung der City sahen in Göttingen seit den 1930er/40er Jahren vor, die Stadt autofreundlich zu gestalten. Parkplätze und breite Zufahrtsstraßen sollten es Kunden ermöglichen, möglichst bequem zu den Geschäftsstraßen zu gelangen. Dies wurde zunächst mit der Einrichtung der Fußgängerzone nicht anders, denn sie umfasste zu Beginn lediglich die zentralen Straßen der Stadt: Die Weender Straße und die Groner Straße sowie angrenzende Winkel. Es war sogar geplant, das Johannisviertel für einen Busbahnhof abzureißen. Der Waageplatz diente in diesem Szenario hauptsächlich dazu, die Zahl der Stellplätze für die Blechkutschen zu erhöhen. Auch viele Werktätige parkten hier, etwa Beschäftigte des Landgerichts (und später der Staatsanwaltschaft).
Durch den Bau von Parkhäusern am Groner Tor und in der Hospitalstraße entspannte sich die Situation etwas. Durch den Erfolg der Fußgängerzone und das wachsende Bewusstsein für die Bedeutung der Innenstadt innerhalb des Walles als gewachsene städtebauliche Einheit in ihrer Gesamtheit rückten nun die peripheren Plätze in das Bewusstsein der Stadtplaner: Der Wilhelmsplatz und der Waageplatz, die 1978 bzw. 1979 in „Schmuckplätze“ und „grüne Oasen“ umgewandelt wurden. Der Wilhelmsplatz diente wie der Waageplatz hauptsächlich als Parkplatz, obwohl sich hier mit der Aula der Universität eines der repräsentativsten historischen Gebäude der Stadt erhob. Das Gerichtsgebäude am Waageplatz wirkt mit seiner romanisierenden Fassade nicht weniger imposant. So entschloss man sich, die Freiflächen in neue, attraktive Freizeiträume zu verwandeln: Parks statt Parkplätze, hieß nun die Devise. Die Planungskonzepte der späten 1980er Jahre betonen, dass damit die Anziehungskraft der Stadt auf Konsumenten gestärkt werden sollte. Ein wichtiges Ziel war also die Bindung der Kaufkraft, wobei Göttingen namentlich mit Kassel konkurriere, das für seine barocken Parkanlagen berühmt ist (Karlsaue, Bergpark). Im Planungsleitbild 1988 wurden die Grundsätze für die Baupolitik folgendermaßen formuliert: Es solle alles erhalten, angesiedelt und gefördert werden, was zur Lebendigkeit der Stadt beitrage (S. 10). Dies bedeute „Vielfalt in jeder Beziehung, Unterbringung aller denkbaren Nutzungen und Tätigkeiten“ sowie „größtmögliche Erlebnisdichte“, um zu verhindern, dass die Attraktivität der Innenstadt für ihre Bewohner und den Fremdenverkehr sinke.
Während der Wilhelmsplatz mit dem Denkmal für König Wilhelm IV. (1837) bereits einen historischen Mittelpunkt besaß, war der Waageplatz bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zu schmal und zu eng für solche „Platzmöbel“. Man verfiel daher auf den Bau eines Brunnens, der aus 20 Fontänen bestand, die sich in der Mitte treffen. Ringsum begrenzen Betonwürfel das Brunnenbecken und laden zum Hinsetzen ein. Beide Plätze wurden streng geometrisch in jeweils vier bzw. drei Rasenflächen aufgeteilt, die durch Wege getrennt sind. Bäume sorgen im Sommer für etwas Schatten (durften aber nicht zu groß werden, um Rasen und Blumen nicht zu schaden). Die in der Mitte halbrund ausgeschnittenen Rasenflächen auf dem Waageplatz wirken barock (mehr noch auf dem Wilhelmsplatz: hier sind sie auch an den Wegen halbrund ausgeschnitten, sowie an den Seiten halbrund ausgebaucht; die Bepflanzung mit Blumen verstärkt den barocken Eindruck). Der moderne Brunnen auf dem Waageplatz wirkt nur auf den ersten Blick fremd in dieser Szenerie: Die sich in der Mitte treffenden Fontänen erinnern ein wenig an den Latona-Brunnen in Versailles, der im Mittelpunkt der Gartenanlagen des Schlosses liegt. Zwar erhebt sich dort im Zentrum eine Pyramide aus mehreren Etagen mit kleineren Fontänen (die auch zu den Seiten gerichtet sind), aber die Frösche, die die Fontänen ausspucken, bemühen sich doch, die Göttin auf der Spitze der Pyramide zu treffen. Auf dem Waageplatz ließ man die Figuren weg und motivierte die Besucher, sich selbst als Brunnenfigur zu üben. Der Brunnen ist sogar genau so groß wie die Froschpyramide in Versailles (bezogen auf den kurzen Durchmesser, denn der Brunnen ist oval). Der äußere Umriss der Fontäne erinnert entfernt an das benachbarte Synagogen-Mahnmal, was den Waageplatz nicht nur symbolisch zu einem Gegenstück des Platzes am Gewerkschaftshaus macht.
Dazu passt, dass die Fassade des Oberlandesgerichts mit Renaissance-Palazzi der Florentiner Frührenaissance in Verbindung gebracht wird (Freigang 2002, S. 810). Das Gebäude wurde 1854-56 von Friedrich Doeltz errichtet, der im Anschluss daran das Auditorium am Weender Tor baute. Er war durch die Hannoversche Schule beeinflusst, die um 1835-1865 den „Rundbogenstil“ favorisierte, in Abkehr vom Klassizismus, der z.B. noch die Aula am Wilhelmsplatz prägt (errichtet 1835-37 von Otto Praël). Wichtige Vertreter dieser Architekturschule waren Christian Heinrich Tramm (1819-1861), der ab 1857 das Welfenschloss erbaute (heute Technische Hochschule), und August Heinrich Andreae (1804-1846), der 1844 den Gerichtsflügel am Alten Rathaus in Hannover entwarf. Die Kapitelle und andere Detailformen am Oberlandesgericht in Göttingen wirken dementsprechend eher spätromanisch als florentinisch. Rundbogenfenster finden sich jedoch auch am Schloss in Versailles!
Aber wie kam der Bauplan des Brunnens nach Göttingen? In der älteren Literatur zum Garten von Versailles findet sich nirgends ein Plan des Brunnens. Möglicherweise erfolgte die Rezeption deshalb indirekt über dessen Nachbau im Park von Herrenchiemsee: Dort ließ König Ludwig II. 1881-85 Teile des Schlossgartens von Versailles imitieren, wenn auch nicht ganz exakt. Nach seinem Tod wurden die Installationen demontiert; erst 1970-72 rekonstruierte man den Latonabrunnen. Das Becken ist etwas kleiner als das des berühmten Vorbildes: während das Original ca. 29 x 40 m misst, besitzt die Umfassung des Brunnens in Herrenchiemsee eine Größe von 24,2 x 36,3 m (gemessen an den Außenkanten; Thiele 1978); die Pyramide mit den Figuren ist genau halb so groß wie der innere Beckendurchmesser (ca. 11 m). Der Brunnen auf dem Waageplatz hat einen äußeren Durchmesser von 12 m. Sein Maß bezieht sich also eher auf den Brunnen von Herrenchiemsee als den von Versailles.
(Thomas Küntzel)
Literatur:
Klaus Boie, Die Entwicklung der Göttinger Innenstadt: Planungsleitbild 1988 (Göttingen 1989).
Christian Freigang, Architektur und Städtebau von der Mitte dees 17. Jahrhunderts bis 1866. In: Ernst Böhme/ Dietrich Denecke (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen. Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648-1866) (Göttingen 2002), S. 765-812.
Ilse Rüttgerodt-Riechmann, Denkmaltopographie Deutschland. Baudenkmale in Niedersachsen, 5.1: Stadt Göttingen (Braunschweig/Wiesbaden 1982), S. 54f.
J. Schreiber, Schloss Versailles (private Homepage). Parterre de Latone – Bassin de Latone, online: https://chateau-versailles.hpage.com/1-3-1-1-2-1-latonabassin.html (29.4.2023).
Ulrich Thiele, Die Wiederherstellung der Wasserspiele in Herrenchiemsee. In: 100 Jahre Herrenchiemsee. Bavaria Foto-Band (München 1978), S. 44-45.